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Studie zur reproduktiven Gesundheit veröffentlicht

29.09.2014 (tro)
Die Vereinten Nationen (UN) verengen das Politikfeld der reproduktiven Gesundheit auf Frauenrechte. Das behaupten Marburger Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler in einem aktuellen wissenschaftlichen Aufsatz mit Blick auf die derzeitige UN-Generalversammlung in New York. Das Team um den Soziologen Prof. Dr. Thorsten Bonacker von der Philipps-Universität veröffentlichte seine Forschungsergebnisse vorab online bei der Fachzeitschrift "Berliner Journal für Soziologie".
"Reproduktive Gesundheit bedeutet das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit, wann und wie viele Kinder jemand bekommen will", erläutern Bonacker und seine Ko-Autorinnen. "Regierungen weltweit fördern reproduktive Gesundheit mit dem Ziel, Armut zu reduzieren. Denn – so die Annahme – gesunde Kinder und Erwachsene sind leistungsfähiger und können sich besser entfalten."
Bonacker, Judith von Heusinger und Dr. Kerstin Zimmer zeigen in ihrer Studie, dass das globale Politikfeld der reproduktiven Gesundheit in den letzten zwanzig Jahren zunehmend auf Frauenrechte fokussiert worden ist. Die Rechte anderer Gruppen treten demgegenüber in den Hintergrund.
Dies habe zur Folge, dass entwicklungspolitische Maßnahmen in erster Linie die Gesundheit von Müttern und deren Kindern in den Fokus nähmen.  "Infolgedessen wird Frauen die Verantwortung übertragen, für sich selbst und die Gesundheit ihrer Sexualpartner und Kinder zu sorgen", konstatieren Bonacker und seine Mitverfasserinnen.
Sie alleine stehen in der Pflicht, zu verhüten und sich vor Krankheiten zu schützen. Andere Bereiche reproduktiver Gesundheit, wie etwa Geschlechtskrankheiten, Männergesundheit und Bedürfnisse anderer Gruppen treten in den Hintergrund.
Die Wissenschaftler des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität kommen zu dem Schluss, dass sich das globale Politikfeld der reproduktiven Gesundheit in den letzten 20 Jahren stark verändert hat. Zu Beginn stand auf internationaler Ebene ein sehr viel umfassenderer Menschenrechts-Ansatz im Mittelpunkt.
Dieser umfasste die Rechte aller Statusgruppen, etwa von Männern, Frauen, Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen. Doch dieser breite Ansatz hat sich bis zur Verabschiedung der "Millennium Development Goals" im Jahr 2000 stark verengt.
Übrig blieb eine Fokussierung auf Mutter-Kind-Gesundheit und die Bekämpfung von AIDS. Die Mitverfasserin Zimmer erklärte: "Entwicklungsziele werden immer stärker an quantitativer Messbarkeit ausgerichtet, wie etwa die Zahl der Müttersterblichkeit oder aber HIV-Neuinfektionen. Schwer messbare Ziele wie sexuelles Wohlbefinden und Diskriminierung von Schwulen und Lesben werden an den Rand gedrängt."
Im Jahr 1994 fand in Kairo die für das Thema entscheidende UN Weltbevölkerungskonferenz statt. In einem bemerkenswerten Konsens zwischen 179 UN-Mitgliedsstaaten wurde festgeschrieben, dass jeder Mensch das Recht auf ein befriedigendes und selbstbestimmtes Sexualleben hat.
"Dies stellt eine Zäsur in der globalen Bevölkerungspolitik dar", sagte Ko-Autorin von Heusinger. "Dieses Leuchtturm-Abkommen markiert einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Entwicklung und Bevölkerungspolitik."
Bei der diesjährigen Sitzung in New York rückte die UN-Generalversammlung vor allem die Rechte der Frau auf reproduktive Gesundheit in den Mittelpunkt. "Dadurch werden viele andere Aspekte von sexueller und reproduktiver Gesundheit vernachlässigt", betonte von Heusinger. Vor allem die Opposition des Vatikans, einiger arabischer Länder und Länder des globalen Südens hätten zur Verengung des Konzepts beigetragen.
"In New York hat man sich jetzt nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt", führte Projektleiter Bonacker aus. "denn Sexualität ist ein äußerst sensibles Thema und in vielen Gesellschaften mit Tabus besetzt." Die UN beleuchte lieber die Rechte der Frau, als kulturell sensible Themen wie Rechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen und Pflichten für Männer anzugehen.
Das Marburger Forschungsprojekt zu reproduktiver Gesundheit ist Teil eines größeren Vorhabens. Allgemein befasst es sich mit kulturellen Konflikten in der Entwicklungszusammenarbeit. Gegenstand der Feldforschung in Kambodscha, Kirgisistan und der Ukraine ist, inwiefern global erarbeitete Entwicklungsprogramme zu reproduktiver Gesundheit und AIDS-Prävention auf Widerstand bei lokalen Akteuren stoßen.
"Gerade in Gesellschaften, die lange Zeit nicht-westlich geprägt waren, lösen Entwicklungshilfeprojekte häufig kulturelle Konflikte aus", legte von Heusinger dar. Diese werden oft als Verstoß gegen lokale Traditionen und Bräuche wahrgenommen. "In Kirgisistan etwa sehen wir, dass nationalistische Politiker internationalen Geberorganisationen vorwerfen, durch sexuelle Aufklärungsbroschüren die Schwangerschaftsrate bei Teenagern in die Höhe zu treiben."
Das Forschungsprojekt wird vorerst noch bis 2015 laufen.
pm: Philipps-Universität Marburg
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