22.03.2014 (fjh)
Die Planer geraten geradezu ins Schwärmen: Autogerecht soll Marburg werden und modern. Das alte Wirtshaus an der Lahn soll einem 25-stöckigen Hochhaus weichen.
Viel zu lachen hatten die Besucher der Premiere von "Das Wirtshaus an der Lahn III - 1970: Besetzung und Abriss". In der - bis auf den letzten Platz besetzten -
Waggonhalle wurde das Theaterstück von Willi Schmidt und vom "Wirtshaus-Team" am Freitag (21. März) uraufgeführt.
Nicht immer gibt die Inszenierung die Fakten der Abrissaktion im Jahr 1970 korrekt wider. Vielmehr ist das Stück eine Satire auf Stadt- und Bauplanung sowie die 68er Bewegung und ihre politischen Nachfolger. Der Ersatz des historischen Wirtshauses durch den sogenannten "Affenfelsen" war nur der Anlass für die Ausarbeitung dieser hintersinnigen Geschichte um den Widerstreit zwischen Kommerz und Kapitalismuskritik, zwischen Modernität und Geschichtsbewusstsein.
Das Kolorit der späten 60er Jahre ließ gleich zu Beginn die "Wirtshaus-Band" mit Pop-Hits von Bob Dylon, Janese Joplin, den Rolling Stones oder anderen wiederauferstehen. Immer wieder streute sie diese Musik in die Geschichte ein. So entstanden Übergänge zwischen den einzelnen Szenen ebenso wie musikalische Kommentare zum Geschehen auf der Bühne.
Die Tochter des stinkreichen Stadt-Magnaten Dr. Carsten Schein hält es daheim nicht mehr aus. Luise möchte Sängerin werden. Ihr Vater jedoch verbietet ihr die Auftritte im Wirtshaus an der Lahn.
Baudezernent Freiental will das Wirtshaus durch ein Hochhaus ersetzen. Gemeinsam mit zwei Architekten plant er die Erneuerung der alten Stadt durch "moderne" Bauten.
Einige junge Leute wollen das Wirtshaus dagegen in ein Kulturzentrum mit kommunitärem Kinderladen umfunktionieren. Freiheit lautet ihre Devise sowohl beim Sex, bei der Kindererziehung als auch beim Umgang mit Drogen. Sie besetzen das leerstehende Gebäude und beginnen mit der Verwirklichung ihrer Träume.
Ihnen schließen sich auch ältere Bürger an, die das historische Wirtshaus retten wollen. Deswegen wird der Protest ebenso wie die Hausbesetzung für die Planer zum Problem. "Mit der Dachlatte" können sie das nun nicht mehr so einfach erledigen.
Komik und Witz entstehen in der satirischen Überzeichnung der verschiedenen Charaktere nun ebenso wie in ihrem Aufeinandertreffen. Vor allem diese Einlagen quittierte das Premieren-Publikum wiederholt mit Szenen-Applaus und schallendem Gelächter.
Der eigens aus Frankfurt angerückte Architekt babbelt immer im charakteristisch nuschelnden Hessisch der Main-Metropole. Wenn er sich als "Hämann" vorstellt, dann erinnert das an einen parodistischen Song der "Rotgau Monotones".
Ein Hippy beginnt jeden Satz mit "Eei". Wenn er dann bei der Nennung von Rudi Dutschke "Eeii, der Rudi" oder bei der einstigen Marburger Studentin Ulrike Meinhoff "Eeii, die Ulrike"sowie bei Karl Marx "Eeii, der Karl" sagt, dann sind ihm die Lacher sicher.
Der Kopf der Gruppe muss alles analysieren. Jeden neuen Mitstreiter muss er zunächst auf seine marxistische Gesinnung hin durchleuchten. Für ihn kann es keine Aktion geben ohne Theorie.
Richtig grandios wird es, wenn die Tante aus dem Ebsdorfergrund ihre Nichte im besetzten Wirtshaus besucht. Als die Hippies ihr stolz erklären, dass sie um das Haus herum Gras anpflanzen, meint sie nur in breitestem Dialekt: "Ei, bei uns wochst das von alloi!"
Noch übertrumpft wird dieser gelungene Gag durch die erstaunliche Besetzung der Rolle des stinkreichen Spekulanten Dr. Schein mit dem stadtbekannten Alt-Linken Pit Metz. Mit sichtbarer Begeisterung schlüpfte der Marburger Gewerkschaftsvorsitzende in die Rolle des skrupellosen Investors, der die gesamte Oberstadt abreisen und die Hausbesetzer mit dem Wasserwerfer vertreiben will. Mit Hilfe seiner Scheine will Schein auch eine "Bimmelbahn" einführen, einen Schrägaufzug zum Schloss und eine Seilbahn.
Spätestens hier wurde klar, dass das Stück mit seinen Geschichten und Personen durchaus auch auf aktuelle Entwicklungen in Marburg anspielt. Dennoch transportiert es auch tatsächliche Ereignisse aus dem Jahr 1970 wie beispielsweise die "Luftballon-Probe", mit der der Architekt des "Affenfelsens" damals tatsächlich die Höhe des Hochhauses simulieren wollte.
Alteingesessene Marburger diskutierten in der Pause und nach dem Ende der Aufführung angeregt über die Stadtsäle, das alte Philippinum und die "Schwan-Apotheke" an der Universitätsstraßße oder das Biegeneck und das Luisa-Heuser-Bad am Rudolphsplatz sowie andere verschwundene Perlen des historischen Marburger Stadtbilds. In mancher Figur auf der Bühne vermochten sie zudem, Züge bekannter Marburger Persönlichkeiten wiederzuerkennen.
Aber auch das junge Publikum hatte am Premierenabend viel zu lachen. Zwischendurch gab es allerdings auch ernsthafte Passagen, mit denen der hintersinnige Humor fast unmerklich zurückwich und Autor Schmidt tiefsinnig die Abgründe der Zeiterscheinungen vor gut 40 Jahren ausleuchtete.
Obwohl die meisten Darsteller Amateure waren, übertraf die Inszenierung manche Darbietung professioneller Schauspieler durchaus. Vor allem der Witz, die musikalische Zeitreise in die frühen 70er und die Anklänge an die jüngere Marburger Stadtgeschichte machen "Das Wirtshaus an der Lahn III" zu einem großartigen Genuss mit einer gelungenen Mischung aus kurzweiliger Unterhaltung und gesellschaftskritischem Tiefgang.
Franz-Josef Hanke
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