09.10.2013 (jnl)
Bei der Anzahl gewerkschaftlicher Bildungsveranstaltungen haben in Marburg die
DGB-Senioren die Nase vorn. Zu einem Vortrag über die Lage der Gesetzlichen Krankenkassen und die Pflegereform hatten sie für Dienstag (8. Oktober) den Abteilungsleiter Ralf Metzger von der AOK Hessen in den Käte-Dinnebier-Saal des Gewerkschaftshauses eingeladen.
Vor einem überschaubaren Kreis interessierter Kollegen und Bürgern stellte der Politikwissenschaftler die gegenwärtig passable Lage der AOK Hessen exemplarisch für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) dar. Seine Bilanz lautete, man könne derzeit nicht meckern, aber die gute wirtschaftliche Situation könnte sich rasch wieder ändern.
Mit 3.600 Mitarbeitern an 61 Standorten betreue die AOK Hessen 1,5 Millionen Versicherte, was 30% der hessischen Bevölkerung entspreche. Bei einem Etat von 4,4 Milliarden Euro entfielen auf den Pflegesektor 0,8 Milliarden Euro.
Der Löwenanteil an den Ausgaben seien die Krankenhauskosten mit 36,3 Prozent. Die relativ stark steigenden Arzneimittelkosten mit 16,5 Prozent hätten den Anteil der Arzthonorare mit 15,3 Prozent zuletzt überflügelt.
Im GKV-Gesundheitsfonds, der alle Einnahmen bündelt, gab es zuletzt rund 13 Milliarden Euro Rücklagen. Davon waren 5,1 Milliarde gesetzlich vorgeschriebene Minimalreserven.
Bei den deutschen gesetzlichen Krankenkassen insgesamt kamen laut der Bilanzen 2012 weitere 15,2 Milliarden Euro Liquiditätsreserven und Überschüsse zusammen. Das wecke fatale Begehrlichkeiten der Politik.
Indes komme in der Prognose für 2013 ein Minus von 9,3 Milliarden heraus, das die guten Vorjahreszahlen deutlich schmälere. Allein durch die Kürzungen des Steuerzuschusses des Bundesfinazministeriums verschlechtere sich die Lage zusehens.
Derzeit müssten nur einige kleinere Betriebskrankenkassen Zusatzzahlungen der Versicherten verlangen. Aber diese Situation könne sich auf mittlere Sicht auch wieder deutlich verdunkeln.
Die neuerdings möglichen Rabbatverträge mit der Pharma-Branche seien vorteilhaft für die Krankenkasse genutzt worden. Da die AOK eine hohe Nachfragemacht repräsentiere, habe man im Wettbewerb mit Ersatzkassen und Betriebskrankenkassen Boden gut machen können.
Für den Pflegesektor präsentierte Metzger eine wohlklingende Wunschliste des Expertenbeirats im Bundesgesundheitsministerium. Daraufhin kritisierten Zuhörer umgehend, dass diese Liste ohne Finanzzusagen keinerlei politische Festlegung enthalte.
Wie bei den gewerkschaften üblich, schloss sich eine lebhafte Frage- und Debattenrunde an. Für den Bereich Pflegereform wurde darauf hingewiesen, dass viele Pflegeheime privatwirtschaftliche Renditeziele verfolgten.
Die bekannten Mißstände bei den Qualitätsstandards und Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter seien häufig ursächlich auf diese Gewinnmaximierungsziele zurückzuführen. Aktivierende Pflege sei mit solchen Rahmenbedingungen wie bisher nicht zu leisten.
Die Krankenkassen wurden dringlich aufgefordert, sich bei der Politik für einen wirksamen existenziellen Schutz von Whistleblowern in den Pflegeeinrichtungen einzusetzen. Zudem sollte man sich verstärkt für eine schärfere Dienstaufsicht und Qualitätsprüfung einsetzen.
Vor einem unmittelbar bevorstehenden Kliniksterben in der Fläche wurde eindringlich gewarnt. Rund 50 Prozent der Krankenhäuser schrieben gegenwärtig rote Zahlen.
Metzger sagte dazu, die Kassen würden gerne Bettenüberkapazitäten etwa in der Region Kassel und im Rhein-Main-Gebiet abbauen. Von drohenden Versorgungslücken in der Fläche sei ihm bisher nichts bekannt.
Auf ständige Verschlechterungen in der Versorgung Schwerstbehinderter durch ambulante Krankenpflegeunternehmen wurde aufmerksam gemacht. Da in diesem Bereich zunehmend auf schlecht ausgebildete, billigere Hilfskräfte gesetzt werde, komme es zu lebensbedrohlichen Engpässen.
Der Marburger gewerksschaftssekretär Dr. Ulf Immelt nannte es "ein Horrorszenario", dass ausgerechnet im hochsensiblen Pflegebereich auf schlechte Bezahlung gesetzt werde. Wohlmöglich würden für Teilbereiche demnächst sogar sogenannte "Bürgerarbeiter" eingesetzt. Die Entwicklungen in dieser Richtung führten zu einer organisierten Unverantwortlichkeit.
Jürgen Neitzel
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