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Fengler und Fassbinder


Anspruchsvolles Theater zum Thema Amoklauf

15.09.2013 (jnl)
Ein brisantes Thema sind Amokläufe immer. Selbstverständlich sind sie damit auch ein Thema für das Theater. Die Premiere von "Warum läuft Herr R. Amok" am Samstag (14. September) auf der Bühne des Hessischen Landestheaters Marburg war mit Spannung erwartet worden.
Regisseur Christian Fries hatte seine Bühnenfassung nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler von 1970 adaptiert. Das Schauspiel Frankfurt am Main war 2003 und das Staatstheater Stuttgart 2007 mit dem gleichen Stoff herausgekommen. Gezeigt wird das Zerbrechen eines labilen Durchschnittsbürgers an der Nichtachtung seiner sozialen Umwelt. Am Ende mündet das in eine blutige Verzweiflungstat mit drei Toten.
In Episoden wird der Weg seiner zunehmenden Verstörtheit im Privatleben wie im Kollegenkreis beleuchtet. Er scheitert an seiner verklemmten Unfähigkeit, Karriere zu machen und echte menschliche Beziehungen aufzubauen.
Die Anderen - einschließlich seiner Ehefrau - sehen schließlich nur noch den "Versager" in ihm und strafen ihn mit Nichtachtung. Ohne dass er oder die anderen Beteiligten die Lage durchschauen, schlittert er in seine finale Bluttat.
Selbstverständlich zeigt die ohne Pause auskommende 100-minütige Marburger Inszenierung die Amoktat nur symbolisch. Aufgeführt wird indes kein Psychodrama, sondern Kritik an der Kälte und Entfremdung der Leistungs- und Erfolgsgesellschaft.
Das zumindest war die Intention des Original-Films: Er wollte entfremdetes Kleinbürgerleben entlarven. Regisseur Fries reißt den "Entlarvern" seinerseits die Maske vom Gesicht, indem er seine Darsteller deren Blasiertheit und Pseudo-Coolness drastisch verkörpern lässt.
Dreifach facettiert agieren die fünf Schauspieler auf mehreren fiktionalen Ebenen. Sie sind zugleich Rollen-Darsteller in den Episoden, dann aus jenen Rollen heraustretende Mitglieder der filmenden Schauspieltruppe und drittens Gefilmte auf einem Video-Fernsehbild, das rechts auf der Bühne steht.
Wirklich sehenswert wird dieses Avantgarde-Theater vor allem durch den enormen Einfallsreichtum der beteiligten Schauspieler. Sie posieren als Coolness-Veteranen, parodieren Lehrer, Ärzte und Schwiegermütter, karikieren Klischees und Attitüden.
Der in atemberaubendem Tempo solistisch vorgeführte Dialog zwischen Schwiegermutter und Ehefrau zeigte Oda Zuschneid als eine Komödiantin von Rang. Aus den insgesamt guten Leistungen der Schauspieler Ogün Derendeli, Annette Müller, Sebastian Muskalla und Stefan A. Piskorz ragte Zuschneids Leistung durch besonderen "Spirit" heraus.
Das Bühnenbild von Marion Eiselé ist minimalistisch. Musiktitel wie "People are strange" von den Doors sind Schlüssel zum Verständnis, werden aber sehr sparsam eingesetzt.
Warum im Video ausgiebig der "Deutsche Herbst" von 1977 eingespielt wurde, blieb rätselhaft. Rudi Dutschkes Video-Aussage, dass Revolution darin bestehe, dass sich die Menschen allmählich zum Besseren hin veränderten, zeigte eine mögliche Lösung auf.
Leicht macht es die Inszenierung von Fries den Zuschauern nicht. Einiges Kopfzerbrechen fordert dieses anspruchsvolle Theater, bis man die Erzählung und ihre ironische Brechung für sich geordnet bekommt.
Überraschend war es daher nicht, dass die Premiere nicht restlos ausverkauft war. Dennoch lohnt diese Inszenierung als kritische Aufarbeitung eines unterschätzten Themas allemal auch in theater-kulinarischer Hinsicht.
Der Schlussapplaus bei der Premiere war kräftig und langanhaltend. Weitere Aufführungen sind am Dienstag (17. September ), Mittwoch (25. September) und Samstag (5. Oktober).
Jürgen Neitzel
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