14.09.2013 (fjh)
"Lernbehinderte Kinder oder lernbehinderte Schule?" Mit dieser Frage hatte Prof. Dr. Eckhard Rohrmann seinen Vortrag über Inklusion überschrieben. Beim "Politischen Salon" der Arbeitsgemeinschaft "Arbeit und Leben" referierte der Marburger Erziehungswissenschaftler am Freitag (13. September) in der
Volkshochschule Marburg über eine kindgerechte Pädagogik für alle.
Am herkömmlichen deutschen Schulsystem ließ Rohrmann dabei kein gutes Haar. Kinder würden in enge Klassenzimmer eingepfercht, zum Stillsitzen gezwungen und im Dreiviertelstunden-Takt mit Wissen vollgestopft, das sie hinterher auswendig aufsagen müssten. Der natürlichen Neugier der Kinder lasse dieses Erziehungskonzept keinen Raum.
Besonders schädlich sei dabei der Leistungsdruck, unter den Kinder in der Schule gestellt werden. Wer mit diesem Druck nicht umgehen könne, werde als "Schulversager" aussortiert. Tatsächlich ist der Grund für dieses "Versagen" nach Rohrmanns Überzeugung jedoch ein Versagen der Schule.
Das deutsche Schulsystem sei "lehrbehindert", erklärte der Sonderpädagoge. Er zeigte eine Untergliederung in fünf vertikale und acht horizontale Segmente auf, die Kinder in Schubladen einsortieren, statt sie entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und Neigungen angemessen zu fördern.
Die richtige Forderung nach Inklusion entsprechend der UN-Konvention über die Rechte Behinderter (UNBRK) wird nach Rohrmanns Beobachtung leider häufig als Vorwand missbraucht, um im Schulsystem Kosten einzusparen. Dabei verlange ihre Verwirklichung ein ganz anderes Schulsystem als das derzeit vorherrschende.
Schon das Wort "inklusionsbedürftig" drehe die eigentliche Idee der Gleichbehandlung aller Kinder unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten ins Gegenteil um. Jedes Kind habe bestimmte Bedürfnisse und Stärken, denen Schule entgegenkommen müsse. Stattdessen würden Kinder aber als "lernbehindert" oder "leistungsschwach" definiert und in Sonderschulen abgeschoben.
Anhand von Statistiken zeigte Rohrmann auf, dass die Zahl der Schüler mit Förderbedarf in Deutschland stetig ansteigt. In Frankreich und Italien hingegen liege sie nur bei einem Bruchteil dessen, was in Deutschland ausgewiesen werde.
Inklusion im Kindergarten und der Schule fördert indes nicht nur die behinderten Kinder, erklärte der Pädagoge. Andere Schüler könnten ihnen den Unterrichtsinhalt erklären und so ihre eigenen Kenntnisse festigen und zusätzliche soziale Kompetenzen erlernen.
Lernen in Projekten ohne Einengung in einen festen Stundenplan fördert nach Rohrmanns Überzeugung die kindliche Neugier und macht die Lerninhalte anschaulich. Kinder müssten verstehen, wozu sie etwas Erlerntes brauchen können.
All das gelte für alle Kinder. Insofern sei Inklusion eigentlich nur das natürliche Miteinander aller Menschen.
Das Wort "Inklusion" sei nur ein neuer Begriff für sehr alte Ideen, erläuterte Rohrmann. Als Beispiel zitierte er aus einem Buch des französischen Pädagogen Édouard Séguin, das er selbst ins Deutsche übersetzt hatte. Unter dem Titel "Moralische Behandlung, Hygiene und Erziehung der Idioten" hatte Séguin bereits vor 180 Jahren Leitlinien für eine Beschulung behinderter Kinder formuliert.
Noch einmal 180 Jahre früher hatte bereits der Pädagoge Amos Comenius eine Schule für alle Kinder gefordert. Schon 1657 sprach er sich für einen gemeinsamen Unterricht aller Kinder unabhängig von Stand, Herkunft und intellektuellen Fähigkeiten aus.
Mit der Einrichtung von Sonderschulen habe Deutschland jedoch schon im 19. Jahrhundert die Ausgrenzung behinderter Kinder aus der Regelschule begonnen. Die Ideologie vom angeblich "Lebensunwerten Leben" habe schon lange vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft das Denken und Handeln vieler Pädagogen geprägt. Bis heute wirke diese Missachtung behinderter Menschen in der allgegenwärtigen Leistungsideologie fort.
Aus eigenen Erfahrungen heraus brachten Eltern behinderter Kinder sowie selbst betroffene Personen in der anschließenden Diskussionsrunde interessante Kommentare zu Rohrmanns Vortrag ein. Bis auf eine Rollstuhlfahrerin waren sich alle einig, dass Behinderte eine integrierte oder seggregierte Beschulung selbst wählen können müssen. Einigkeit herrschte im vollbesetzten VHS-Atelier aber auch darüber, dass eine frühe Inklusion in Kindergarten und Alltag eine notwendige Voraussetzung dafür ist, gesellschaftliche Vorbehalte und eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen abzubauen.
Franz-Josef Hanke
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