07.09.2013 (jnl)
Das Vorhandensein einer lebendigen Zivilgesellschaft mit vielen hochkompetenten Akteuren war nur der Ausgangspunkt. Hilde Rektorschek von der
Kulturloge Marburg war die Initiatorin einer mehrstündigen Ehrenamtskonferenz am Freitag (6. September) im Stadtverordnetensitzungssaal.
Unter dem Titel "Kommunale Engagementförderung - eine Investition in die Zukunft?" wurden dort die Chancen eines Aufblühens bürgerschaftlichen Engagements in der
Universitätsstadt Marburg untersucht. Durch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen kommunalen Verwaltungsfachleuten und Ehrenamtlern aus den zahlreichen Vereinen und Initiativen der Stadt erhoffte man sich eine nachhaltige Steigerung der Gemeinwohlorientierung in der Stadtgesellschaft.
Mit fachlicher Unterstützung der
Stadt Marburg war ein hochkarätig besetztes Programm mit zwei Experten-Podien und einem Fachwissenschaftler zustandegekommen. Auf Einladung der Kulturloge Marburg und der Freiwilligenagentur Marburg-Biedenkopf (FAM) waren über 100 sachkundige Vertreter von Vereinen und Bürgern gekommen. Sie füllten den Saal bis auf den letzten Platz.
Nach einer einfühlsamen Begrüßung durch Oberbürgermeister Egon Vaupel führte Prof. Dr. Adalbert Evers von der Universität Gießen ein in das Thema und in die Möglichkeiten einer Anerkennungskultur. Der Politikwissenschaftler machte mit zahlreichen Beispielen wie der erfolgreichen Hospiz-Bewegung Mut, als Verwaltungsprofis und als Ehrenamtler gemeinsam neue, zukunftsfähige Wege zu finden.
Da die Kommunalverwaltung ohnehin nicht alle Aufgaben alleine schaffen könne, sei eine neue Offenheit für den Dialog mit und die Einbeziehung von Bürgern unverzichtbar. Nur ohne Arroganz seitens der Profis und eine beständige einfühlsame Anerkennung könne man ehrenamtliches Engagement erhalten und erweitern.
In der Diskussion darüber warnte Hannelore Gottschlich vor einer Schönfärbung der tatsächlichen Problemlage und Brigitte Bohnke vor einem Planen in nicht überschaubaren Zeiträumen. Freiwilliges Engagement gibt es weder automatisch noch umsonst, das wurde klar.
Das "Fast Forward Theatre" brachte nach dieser geballten Ladung Theorie zur Abwechslung eine zu befreitem Lachen reizende Viertelstunde Improvisationstheater ein. Auf Zuruf der Zuschauer eingeworfene Stichworte wurden von dem Theater-Duo höchst amüsant zu einem komödiantischen Drama verdichtet.
Anschließend ging es weiter mit einem sechsköpfigen Podium zum Thema "Welchen Bedarf hat die Stadtgesellschaft der Zukunft an bürgerschaftlichem, freiwilligem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger?" Mit viel Übersicht und Kompetenz moderierte Brigitte Bohnke.
Der emeritierte Theologe Prof. Dr. Siegfried Keil stellte den von ihm initierten, umtriebigen Stadtteil-Verein
"Aktive Bürger Cappel" vor. Er betonte den beobachtbaren sowohl demografischen als auch strukturellen Wandel der Vereinslandschaft. Simon Schmidt vertrat die studentische Initiative
"Rock your life! Marburg". Die dort aktiven Studenten übernehmen zweijährige Integrations-Patenschaften für benachteiligte Schüler, die beraten und gecoacht werden, bis der Schulabschluss geschafft ist.
Einen ähnlichen Schwerpunkt in der Ausländer-Integration vertrat Shaima Ghafury vom Sozialverein BSF Richtsberg. Dr. Petra Engel von der städtischen Stabsstelle Altenplanung stellte neuartige Formen der Kooperation mit Ehrenamtlichen im Bereich Seniorenarbeit vor.
Propst Helmut Wöllenstein betonte den nach seiner Darstellung mit 36 Prozent der Kirchenmitglieder hohen Anteil der ehrenamtlich Engagierten. Prof. Dr. Theo Schiller brachte die glanzvolle Historie des in Marburg durch Selbsthilfde und Selbstorganistion Erreichten in den Blick. Das reicht von den drei Marbuger Kulturzentren über das Frauenhaus und die Geschichtswerkstatt bis zur Initiativgruppe Marburger Stadtbild und Stadtentwicklung (IG MARSS).
Nach einer Mittagspause kamen auf einem Podium vier weitere große Bereiche zu Wort. Die FAM-Mitbegründerin Heidi Albrecht leitete dieses kleinere Podium resolut und sehr gekonnt.
Stellvertretend für die zahlreichen Sportvereine in der Stadt beschrieb der Vize-Vorsitzende des TSV Ockershausen, Thomas Nickol, die zunehmend schwierige Gewinnung und Erhaltung von Übungsleitern. Nur wenige kämen noch wie früher aus dem Stadtteil, viele hätten heute lange Wegezeiten und Probleme mit langfristiger Festlegung.
Werner Meyer vom Fachbereich Kinder, Jugend und Familie der Universitätsstadt Marburg umriss routiniert die gegenwärtigen Gemengelagen in der Jugendhilfe. Die ehemalige Schulleiterin Elisabeth Fiedler beschrieb ihre erfolgreiche Praxis, durch ehrenamtliche Projekte mehr Wirklichkeit und Praxis in die Schule zu holen.
Christopher Althaus von den Wirtschaftsjunioren Marburg betonte, dass in Deutschland die Ermöglichung ehrenamtlichen Einsatzes nicht flächendeckend in den Planungen der Unternehmen angekommen sei, obschon er das Verständnis als vorhanden hervorhob. Oskar Edelmann von der IHK Kassel-Marburg war kurzfristig entschuldigt ferngeblieben.
In einer scharfen Kritik warf Bernd Gökeler von der Multiple-Sklerose-Selbsthilfegruppe Marburg-Biedenkopf in die Diskussion ein, ob das bloße Reden von "Miteinander" nicht nach wie vor oft Schönfärberei bedeute. Nach seinen Erfahrungen gebe es häufig keine Begegnung auf gleicher Augenhöhe zwischen Fachleuten aus der Stadtverwaltung und Ehrenamtlichen.
Als Resultat der Podien und der Debatte wurde festgehalten, dass es künftig eine Anlauf- und Beratungsstelle für Vereinsvorstände bei der Stadt Marburg geben sollte. Brigitte Bohnke schlug vor, dass eine solche bevorzugt im Rahmen des bestehenden FAM-Vereins einzurichten wäre.
Gewonnen wäre dadurch, dass zukünftig vielleicht wieder leichter Vereinsvorstände gewonnen werden könnten. Die juristisch zunehmend verregelte und mit zahlreichen Fallstricken gespickte Lage im Vereinsrecht bereitet mittlerweile ebenso große Probleme wie mangelnde Zeitreserven für Ehrenamtlichkeit bei heutigen Berufstätigen ebenso wie Studierenden.
Als wichtigste Erkenntnis der Konferenz bleibt festzuhalten, dass die ehrenamtlichen Strukturen in den Vereinen erheblich in der Krise sind. Traditionen tragen nicht mehr ohne Weiteres. Nur neue Formen von Anerkennungskultur, Förderungsvielfalt und verstärkte Akzeptanz von Selbsthilfe und Selbstorganisation im Ehrenamt könnten dem abhelfen.
Jürgen Neitzel
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