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Vertrauen und Gewalt


Reemtsma referierte im Tasch

24.06.2008 (fjh)
"Ich möchte ebensowenig von einem Politiker regiert werden, der sich vor Macht ekelt, wie ich von einem Arzt operiert werden will, der kein Blut sehen kann", bekundete Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma. Auf Einladung des Marburger Literaturforums stellte der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung am Montag (23. Juni) im Theater am Schwanhof sein neuestes Buch "Vertrauen und Gewalt – Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne" vor.
Rund 100 Besucher lauschten seinen Ausführungen sehr konzentriert. Das war allerdings auch notwendig, da sowohl Reemtsma als vor allem auch Moderator Dr. Jan Süselbeck sehr leise sprachen. Der Vorsitzende des Marburger Literaturforums lotste das Publikum und den Referenten mit – teilweise leicht akademischen – Fragen zum Inhalt des neuen Buchs knapp eineinhalb Stunden lang durch den Abend.
Nicht verwundern konnte dabei, dass der Marburger Literaturwissenschaftler dem Hamburger Sozialwissenschaftler gleich mehrere Fragen zu Verweisen des Buchs auf literarische Beispiele stellte. Denn Reemtsma hat viele seiner Aussagen mit Darstellungen aus der Weltliteratur belegt.
"Menschen, die lesen, leben multipel", erklärte er. Durch die Literatur könne man zu eigenen Erfahrungen die Erlebnisse anderer Menschen hinzugewinnen. Dabei fasse gute Literatur häufig die wesentlichen Aussagen zu einem Thema oder das allgemein verbreitete Gefühl einer Epoche pointiert zusammen.
Die These, Kritik an der Gewalt sei erst nach dem massenhaften Grauen des Ersten Weltkriegs aufgekommen, widerlegte Reemtsma anhand von Ludwig Tiecks Roman "Hexensabbat". Darin vergiftet ein offenkundig verrückter Bischof das liberale Klima einer Kleinstadt, indem er zwei Huren als Hexen verbrennen lassen will. Jeden, der sich ihm entgegenstellt, bezichtigt er umgehend, auch mit dem Teufel zu paktieren.
Als weiteres Beispiel nannte Reemtsma die Darstellungen des Beichtvaters Friedrich Spee von Langenfeld über die Wirkung von Folter, die er im frühen 17. Jahrhundert auf die Aussagen von angeblichen "Hexen" und "Ketzern" gegenüber dem Priester zurückgehen. Sein Buch gipfelt in dem Bekenntnis, dass auch er selbst unter Folter alles zugeben würde, was man von ihm verlange.
Als literarisch bedeutendsten "Soziologen der Gewalt" benannte Reemtsma den englischen Dichter William Shakespeare. Er stelle für ihn ein Bindeglied zwischen der Renaissance und der Moderne dar. Die Auseinandersetzung mit Macht und Gewalt ziehe sich durch sein gesamtes Werk. Dabei beziehe er jedoch immer wieder unterschiedliche Standpunkte und Konstellationen in seine Bühnenstücke ein.
Als weiteres Beispiel nannte der Hamburger Sozial- und Literaturwissenschaftler das Drama "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller. Hier stelle der Autor die Figur des "Desperados" dar, der als bewaffneter Einzelkämpfer in eine Situation hineingerät, aus der er sich nur in verzweifeltem Kampf befreien kann.
Tell habe sich gar nicht am Rüthli-Schwur beteiligt. Ihm sei es beim Schuss auf den Landvogt Gessler nur um persönliche Dinge gegangen. Schon im Personenverzeichnis des Dramas stelle Schiller ihn als "Tell mit der Armbrust" vor.
Insgesamt zeichnete der Referent eine positive Entwicklung weg von der individuellen Gewalt hin zu ihrer gesellschaftlichen Ächtung auf. Auch wenn diese Entwicklung vor allem im 20. Jahrhundert empfindliche Rückschläge erlitten habe, präge sie trotzdem das Selbstverständnis moderner Demokratien beim Umgang mit Gewalt.
Sei im Mittelalter noch nahezu jeder bewaffnet herumgelaufen und habe man damals Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen durchgeführt, so sei die Gewalt in Europa im 18. oder 19. Jahrhundert immer stärker aus dem Alltag verdrängt worden. Als Wegmarke nannte Reemtsma hier Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise".
Das Gewaltmonopol des Staates habe die Gewalt weitgehend aus den Alltagsbeziehungen der Menschen untereinander verdrängt. Möglich sei das allerdings nur durch das Vertrauen geworden, das die Bürger ihren Regierenden entgegenbringen. Dieses Vertrauen setze voraus, dass der Staat seine Aufgabe im Wesentlichen adäquat wahrnehmen werde.
Geschehe das einmal nicht, so müsse das skandalisiert werden. Die Bürger müssten sich auf diese Mechanismen verlassen können, um sich in ihrem Staat vertrauensvoll einrichten zu können.
Als extremes Gegenbeispiel dazu führte Reemtsma Russland nach der Oktober-Revolution des Jahres 1918 an: Im Stalinismus sei die Gewalt beinahe wahllos ausgeübt worden. Jederzeit habe sie nahezu jeden treffen können. Selbst Politiker der innersten Führung seien davor nicht sicher gewesen.
Missgunst und Denuntiation hätten diese Ära geprägt. Den Stalinismus verglich Reemtsma insoweit mit einer Verbrecherbande, wo man sich am ehesten sicher fühlen kann, wenn man sich in unmittelbarer Nähe des Anführers bewegt.
Im Gegensatz dazu sei der deutsche Nationalsozialismus vor allem auf die Vernichtung der Juden ausgerichtet gewesen. Wer sich nicht im Gegensatz zum Regime begeben oder keiner ethnisch als "unwert" definierten Gruppe angehört habe, der habe auf seine persönliche Sicherheit vertrauen können.
An den Anfang seines Buchs hat Reemtsma die Frage aus Walter Kempowskis Roman "Tadellöser und Wolf" gestellt: "Wie ist es nur möglich gewesen?" Damit kennzeichnete Reemtsma die Irritationen über das Zustandekommen der Nazi-Diktatur.
Die allgemeine Ächtung von Gewalt hält Reemtsma trotz dieser Rückschläge für eine unumstößliche Grundlage der modernen Gesellschaft. Insofern sei die Menschheit hier bereits einen sichtbaren Schritt vorangekommen.
Eine Diskussion über Folter lehnte er ab. Sein Vortrag endete mit der Feststellung, dass der Ausgang der Geschichte offen sei. Er sei zwar optimistisch, doch dürfe man sich nicht auf das "Prinzip Hoffnung" verlassen.
Franz-Josef Hanke
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