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Der schnelle Wahnsinn


Was Läufer am Laufen verstehen sollten

28.06.2013 (als)
Immer wieder zupfe ich an meinem Shirt. Verzweifelt versuche ich, ein wenig Luft an meine Haut durchdringen zu lassen.
Alles klebt. Wie ein nasser Putzlappen hat sich die sogenannte Funktionskleidung an mir festgesaugt und scheint bei dieser Hitze dennoch jegliche Funktion verloren zu haben.
Zweifelnd schaue ich hinunter auf meine Beine. Sauerstoff, meine Muskeln brauchen Sauerstoff!
Auf dem zirka zwei Kilometer langen Weg zum Uni-Stadion verliert man heute mindestens vier Liter Wasser. Als Sportler liege ich also mindestens zehn Liter im Minus.
Deshalb trinke ich und trinke und trinke. Allerdings bekäme ich dann einen Wasserbauch und müsste mich gluckernd über die Tartanbahn schleppen. Wieso müssen auch ausgerechnet heute 34 Grad Celsius vom Himmel brennen?
Für den frühen Abend hatte ich mich mit Nadine Kiessling zu ein paar "lockeren" Tempoläufen verabredet. Das war vor etwa zwei Wochen. Damals tippte mir an gleicher Stelle eine frech lächelnde Person auf die Schulter und fragte mich, wer ich sei und was ich hier mache. Ihre Frage nach einem gemeinsamen Training weckte sofort den Kampfgeist, der eben noch dehydriert in der hintersten Ecke meines Egos gelegen hatte.
Und da stehe ich nun – wie frisch aus dem Pool gezogen, und warte auf meine neue Trainingspartnerin. 39:47 Minuten ist sie in diesem Jahr schon über zehn Kilometer gelaufen. Damit hätte sie bei den Hessischen Meisterschaften 2012 zu den besten 20 Frauen über diese Distanz gezählt. Auch beim Marburger Nachtmarathon 2012 konnte nur eine einzige Frau sie schlagen. Und das bei ihrer Premiere über die 42,195 Kilometer!
Ob ich da überhaupt mithalten kann? Auf viel zu viel Wasser in meinem Magen streut sich jetzt auch noch eine Prise Selbstzweifel. "Läufer und ihr verdammtes Ego!", denke ich und rede mir ein, der Einheit nicht allzu viel Wichtigkeit beizumessen. Ich sollte froh sein, mich nicht mehr alleine durch meine Trainingspläne quälen zu müssen.
Beim Warmlaufen höre ich ihr dann einfach nur zu. Aus den Augenwinkeln mustere ich ihre Arm- und Beinhaltung und versuche, mir einen ersten Eindruck zu verschaffen.
"So bleibt wenigstens mein Gesicht etwas im Schatten", lacht sie plötzlich und deutet auf die bunte Kappe auf ihrem Kopf. Na klasse, ärgere ich mich, dass ich die jetzt auch noch vergessen habe und zudem noch komplett in schwarz gekleidet bin. Die nächsten 10 Minuten wundere ich mich dann, dass Läufer es scheinbar doch schaffen, andere Themen als Sport zu finden.
Nadine ist wie ich ein 90er-Jahrgang. 2010 kam sie aus Weidenbach bei Ansbach nach Marburg, um Geographie und Volkswirtschaftslehre zu studieren. "Weil Marburg zu der Zeit die beste Uni für Geo war", erzählt sie mir. Von den drei Jahren verbrachte sie ein Jahr in Neuseeland, begann sich auch politisch zu engagieren.
Doch wie so oft wandert das Thema auch diesmal wieder zurück zum Laufen. Mit der Zeit fühle ich mich immer verunsicherter. Nadine erzählt wie selbstverständlich von all ihren anderen Interessen, während mein Hirn sich tagein tagaus nur damit beschäftigt, der perfekte Sportler zu sein. Und doch ist sie schnell wie der Wind. Mache ich womöglich etwas falsch in all meinem Ehrgeiz?
"Ich mach' nur 500!", japst sie mir beim dritten Durchgang unseres achtmal 800-Meter-Programms zu. Ein Anflug von Erleichterung macht sich bei mir breit.
Um nicht ohnmächtig zu werden, gewähre ich mir, die Trabpausen endlich zu verlängern. Ich scheine ja schließlich nicht die einzige "Harte" zu sein, die heute nicht "in den Garten" kommt, beruhige ich mein Gewissen.
Intervallläufe sind schnelle, an Zeitvorgaben gebundene Läufe mit einer möglichst kurzen Erholungsphase. In unserem Fall heißt das eine langsame nach zwei schnellen Stadionrunden. Doch eigentlich kämpft sich kein normaler Mensch bei 80prozentiger Luftfeuchtigkeit und Sahara-Sonne durch Intervallläufe. Richtig! Kein "normaler" Mensch!
Bis zum nächsten Wiedersehen frage ich mich, ob dieser Wahnsinn eigentlich Teil des Laufens oder des Läufers selber ist. Habe nur ich Angst vor dem Gefühl des Versagens, vor Wasserbäuchen, Hitze, übersäuerter Muskulatur und nicht planmäßigen Tempoeinheiten? Nadine schien so unbekümmert, als ließe sie all das kalt. Mit Problemen, wie ich sie empfinde, scheint sie sich nicht auseinanderzusetzen.
Ein neuer Dienstag, ein neues Training steht bevor. Diesmal sind es zehn 400-Meter-Läufe in der Vorgabe von 87 Sekunden und 400 Metern Trabpause. Das Wetter stimmt; gegessen habe ich auch nicht zu viel.
Das Teufelchen im Sportdress flüstert mir ins Ohr: "Die schaffst du doch viel schneller." Und ob! Wo bleibt Nadine?
Die nächsten eineinhalb Stunden rollen meine Beine schon in der Aufwärmphase wie von selbst. Plötzlich bin ich in der Lage, einfach nur die Bewegung zu genießen, die Luft in meinen Lungen und den Pulsschlag an meinem Hals zu spüren. Nadine ist in diesem Moment Teil meiner Freude, nicht die Konkurrenz.
"Geh' du doch mal nach vorne, du kannst doch mithalten!", verlange ich, als Nadine einfach hinter mir bleibt und meinen Windschatten nutzt. In fast zehn Jahren Leistungssport hat mich diese Art der Vorteilsnahme immer schon wild gemacht. Nach unserer Einheit witzelt sie: "Das war vielleicht lustig, als du das gesagt hast." Und wieder fühle ich mich wie ein albernes Kind, das weint, weil der Wind sein Kartenhaus umgeblasen hat.
Früher, erzählt mir Nadine, musste sie vor Publikum Musikstücke vorspielen. Sie ging damals auf ein musisches Gymnasium. Vor lauter Aufregung hatte sie allerdings oft mit zittrigen Händen zu kämpfen. Das Laufen hat ihr schließlich dabei geholfen, diese Aufregung in den Griff zu bekommen.
Bei mir hingegen kam die Angst erst mit dem Laufen. Bei mir "läuft" einfach alles andersherum. In meiner Welt muss der Ehrgeiz erst ein Grundgerüst schaffen, damit sich der Erfolg einstellt. Wer schön, schnell oder gut sein will, muss eben leiden. Oder etwa nicht?
Als ich Nadine irgendwann nach ihren Vorbildern frage und an Läufergrößen wie Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe oder die mehrfache deutsche Meisterin Sabrina Mockenhaupt denke, sagt sie: "Peter aus meinem Heimatverein. Der ist nie verletzt, macht nie zuviel, hat einfach nur Spaß."
So sehr blockiert mich der Überehrgeiz also in meinem Denken und Empfinden. Als Läufer laufe ich ständig Gefahr, dem Laufen seine Schönheit zu nehmen.
Müde aber zufrieden lockere ich nach dem Training meine Schnürsenkel und gehe von der Umkleide zurück auf den Sportplatz. Da sehe ich Nadine auf dem Rasen liegen und einige Kraftübungen machen. Den schlanken Körper stemmt sie in Rückenlage mit ihren Unterarmen hoch.
"Sofort aufhören!", brülle ich. "Das ist Vorteilsnahme!" Danach brechen wir beide in lautes Gelächter aus.
Anna Schneider
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