15.03.2013 (jnl)
Für handfesten Realismus und Qualität stehen die Produktionen des Saarbrücker "Theater Überzwerg" seit langem. Das galt auch 2013 wieder für "Fluchtwege" von Nick Wood, das am Freitag (15. März) auf der Studiobühne "Black Box" beim
18. Hessischen Kinder- und Jugendtheaterfestival (KUSS) gezeigt wurde.
Das 2003 mit dem "Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin" ausgezeichnete Jugendstück erzählt aus der Perspektive der Geschwister Riva und Andrea vom Flüchtlingsschicksal ihrer Familie. Dabei wurde ihr Vater getötet und ihre Mutter stumm vor Trauer. Im ersten Drittel schildern die Kinder die Erlebnisse, die ihre Flucht notwendig machten. Im Hauptteil geht es um ihre psychologischen Schwierigkeiten, trotz Traumatisierung hier in Deutschland mit den Menschen und Verhältnissen klarzukommen.
Selbst für erwachsene Zuschauer ist es eine spannende Geschichte, in den facettenreichen Erlebnissen der Kinder mal die Innenperspektive einer Asylbewerberfamilie zu sehen. Für die Zuschauer ab neun Jahren wird ein ganzer Trauma-Hintergrund, von dem sie vorher gar nichts ahnten, zugänglich gemacht.
Die einfühlsame Inszenierung von Frank Engelhard zeichnete die Erlebnisräume und das Gefühlsleben der Geschwister ganz aus ihren Schilderungen und Dialogen miteinander. Soweit überhaupt weitere Rollen vorkamen, übernahmen die beiden Schauspieler sie in fliegendem Wechsel.
Der unnachahmlich jungenhaft wirkende Nicolas Bertholet als "Andrea" lieferte eine eindrückliche Charakterstudie als "großer Bruder". In der ehemaligen Heimat fühlte er sich zuhause; in der neuen Sozialumgebung Deutschland indes mag er nicht recht ankommen. Nur weil seine Schwester ihm eindringlich den Weg nahelegt und der von ihm geliebte Fußballsport eine Brücke baut, gelingt es ihm allmählich, sich neu zu integrieren.
Eva Coenen ist ein mimisch unglaublich starkes Energiepaket von rund 1,60 Metern Körpergröße. Ihre Bühnenpräsenz allein kann ganze Schulklassen mucksmäuschenstill in den Bann schlagen. Abwechselnd als "kleine Schwester Riva" und als deren Mutter ließ sie die vertrackte Familiensituation eindringlich lebendig werden.
Das minimalistische Bühnenbild von Dorota Wünsch bestand aus zehn Hartschaumkoffern sowie Wandelementen aus schwarzen Stoffbahnen, die bei Szenewechseln Abgänge ermöglichten. Die eigentliche Flucht über die Landesgrenzen wurde nicht ausgespielt, sondern von den beiden Darstellern mit von "Koffern" vollgepackten Armen als kleine Drehwirbel-Szene nur angedeutet.
Eine kleine Beobachtung der vorwiegend zehnjährigen Jungen in der Sitzumgebung des Rezensenten deutete auf eine mögliche "Sollbruchstelle" im Stück. Als Coenen mit einer Wollmütze verkleidet einen ausländerfeindlichen Jugendlichen und seine fiesen Sprüche darstellte, tauschten fünf von acht Jungs ein abschätziges, "wissendes" Grinsen miteinander aus.
Anscheinend ist eine Neigung zu rechtsextremen Weltbildern im
Landkreis Marburg -Biedenkopf bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet. Ein solches Ergebnis kam kürzlich auch bei Schulaufführungen des Films "Blut muss fließen" im Cineplex heraus.
Umsomehr erweist sich die Kindertheater-Inszenierung als notwendiger "Türöffner", um in den Schulen über Asylbewerberfamilien und Flüchtlingskinder fundiert durch eigene Theater-Erlebnisse ins Gespräch zu kommen. Statt der Außen- die Innenperspektive zu eröffnen, ist ein enormes Verdienst dieses wegweisenden Jugendstücks.
Mit einer tempo- und handlungsreichen Inszenierung die Sinne der Kinder aufzuschließen für ein stark vorurteilsbehaftetes soziales Problemfeld, ist dem Theater Überzwerg überzeugend gelungen. Auch dieses Stück könnte ein aussichtsreicher Anwärter auf den Marburger Kinder- und Jugendtheaterpreis 2013 sein.
Jürgen Neitzel
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