10.03.2013 (jnl)
Auf gleicher Augenhöhe trafen sich Medienwissenschaftler, Kameraleute und filmisch interessierte Bürger im 15. Jahr erneut zu den "Marburger Kameragesprächen". Die zweitägige Veranstaltung befasste sich in drei Sitzungen am Freitag (8. März) und Samstag (9. März) im atmosphärisch prachtvollen
Filmkunst-Kino "Kammer" am Steinweg mit der Bildgestaltung in Filmen dreier Regisseure.
Anders als bei der Berlinale geht es in der Medienwissenschaft nicht um Starrummel mit Schauspielern und Regisseuren, sondern um Analysen. Der Preisträger des Marburger Kamerapreises Reinhold Vorschneider brachte bemerkenswerte - eher unbekannte - deutsche Spielfilme in die medienwissenschaftliche Diskussion ein.
Prof. Dr. Malte Hagener von der
Philipps-Universität und sein Vorbereitungsteam hatten erneut eine von hochkarätigen Fachleuten moderierte Filmforschungs-Tagung auf die Beine gestellt. Kinounternehmer Hubert Hetsch hat wiederum ein absolut großartiges filmisches Rahmenprogramm aufgeboten.
Am Freitagnachmittag ging es um den Film "Mein langsames Leben" aus dem Jahr 2001 von der Autorenfilmerin Angela Schanelec. Gezeigt wird darin, wie eine zeitgenössische Mittzwanzigerin aus gutbürgerlichen Verhältnissen und ihr gleichaltriges Umfeld in Berlin mit allfälligen Beziehungskonflikten umgeht.
Sie bekommt eine neue WG-Mitbewohnerin, verliebt sich in deren Bruder und muss den Schlaganfall und Tod ihres Vaters verkraften. Das Ganze ist eine melancholisch gestimmte filmische Meditation über das Lebensgefühl jener 30-Jährigen, die im relativen Wohlstand leben und trotzdem Nachdenklichkeit kultivieren.
Der im deutschsprachigen Raum bekannte Filmkritiker Ekkehard Knörer aus Berlin führte das Gespräch mit dem Preisträger: "Reinhold Vorschneider - wie haben Sie das gemacht?"
In der Tat sah man in der Bildsprache einiges Originelles und Überraschendes. Helle Begeisterung herrschte bei allen Fachleuten etwa über jenes "Virtuosenstück", in dem die Protagonisten in einem Park-Spaziergang über einen Fall von Fremdgehen und eine Abtreibung zu sprechen kommen.
Die Kamera fährt dabei autonom in langsamem, gleichmäßigem Tempo parallel zum Weg der Schauspieler. Statt eines Kameraschwenks oder stetigem Blick-Begleitens der Darsteller geraten sie sogar gelegentlich aus dem Bild. Diese Verweigerung aller Konventionen erzeugte filmerzählerisch große Spannung und Erweiterung des Assoziationsraums.
Im Gespräch stellte sich heraus, dass Kameramann Vorschneider und Regisseurin Schanelec ausgesprochen intuitiv miteinander die filmsprachlichen Entscheidungen treffen. Die von ihr verfassten Drehbücher seien häufig nicht sehr detailliert in filmischen Festlegungen, sondern eher literarisch geprägt, konstatierte der Cinematograph.
Schanelec hat alle ihre sechs Spielfilme seit ihrem Hochschul-Abschlussfilm 1995 mit diesem Kameramann verwirklicht. "Da haben sich zwei glücklich gefunden, die über die gleiche Wellenlänge verfügen", lautete ein Kommentar aus dem Publikum.
Anhand von Filmausschnitten wurde herausgearbeitet, dass Vorschneider einige Vorlieben kultiviert, die seinen filmischen Stilwillen charakterisieren. Häufig inszeniert er ästhetisch Teilbilder statt der Panorama-Einstellung. Er bevorzugt natürliches Licht gegenüber effektheischender Ausleuchtung. Außerdem liebt er Gegenlicht, Spiegelungen und lange Einstellungen mit ausgetüftelter Kadrierung.
Der vom Lob der Fachkollegen und Filmwissenschaftler gleichermaßen gefeierte Kameramann äußerte selbstkritisch, dass sein persönlicher "Hang zu graphischer Komposition" nicht überall auf Gegenliebe stoße. Auch beim Publikum komme seine Vorliebe für "obsessives Kadrieren" und sein zeitweiliges Unterlaufen oder Verweigern des herkömmlich Üblichen nicht immer an.
Kulturwissenschaftler Knörer holte im Dialog heraus, dass Vorschneider sich von Vorarbeiten bei Jean-Luc Godard und von Philippe Garrel beeinflusst sieht. Den von anwesenden Fachkollegen bewunderten Spielfilm auf dem Terrain des Pariser Flughafens Orly hat der Kamera-Luchs übrigens ohne Absperrungen und gar nicht versteckt, aber mit extrem langen Brennweiten zustande gebracht.
Als gegen 17:50 Uhr die im Stau auf der Autobahn steckengebliebene Regisseurin Schanelec auftauchte und auf die Bühne gebeten wurde, war die erste Sitzung bereits kurz vor ihrem Ende. Die Regisseurin bestätigte, dass in ihren Filmen keine spezielle, geplante Farbdramaturgie eingesetzt werde und mit ihrem "Partner an der Kamera" ein ideal freies, intuitives Arbeiten möglich sei.
Am nächsten Morgen gingen die Kameragespräche weiter mit dem Film "Der Räuber" von Benjamin Heisenberg. Er zeigt die existenzielle - extrem sportliche - Flucht eines jungen Mannes, der mehrere Bankraubdelikte begangen hat und dabei aufgeflogen ist, aber den polizeilichen Verfolgern wiederholt ein "Schnippchen schlägt".
Moderiert von dem erfahrenen Kameramann und Münchner "Bildästhetik-Professor" Axel Block, drehte sich das Gespräch mit Vorschneider über die Besonderheiten dieses Films. Vor allem sein spezielles Verhältnis zum aufgenommenen Raum und die darin zu findenden Lichtmodulationen wurden zum Thema.
Vorschneider betonte auf Nachfrage Blocks, dass er Innenräume mit natürlichem Licht weitaus am Interessantesten finde. Halbschatten und nur zu ahnende Mimik nehme er dabei manchmal in Kauf.
Ebenso entstünden aus den engen gegebenen Raumverhältnissen manchmal Verdeckungen des Hauptdarstellers eigentlich zufällig. Aber das nehme er bewusst teilweise hin, da so eine größere visuelle Spannung entstehe.
"Ich suche eher seitliche Profil- oder Halbprofil-Blicke mit der Kamera", gab Vorschneider an. Frontale Aufnahmen fände er oft uninteressant.
Das Arbeiten mit Heisenberg sei von einer völlig anderen Philosophie geprägt als mit Schanelec, betonte der Cinematograph. In "Der Räuber" habe es durchgängig eine zweite Steady-Kamera gegeben, denn man strebte an, möglichst viel Schnitt-Material zu generieren.
Bei den in realen Bankfilialen gedrehten Überfall-Szenen habe es vorwiegend kein "Storyboard" und keine Kreidemarkierungen gegeben, berichtete Vorschneider. Das Budget war knapp und so musste man improvisieren.
Block hatte beobachtet, dass in diesem Film ein virtuoser stetiger Wechsel zwischen Beteiligungshaltung in Innenräumen und distanzierender Beobachterhaltung bei Außenaufnahmen stattfindet. Der Kamera-Operateur bestätigte das.
Ohnedies sei manches in der Kameraarbeit nicht erzählerisch motiviert, sondern wegen der visuell interessanteren Perspektive so gewählt, kommentierte Vorschneider. Er fühle sich nicht gebunden an eine rigide Perspektiv-Haltung.
Beim zweiten Filmausschnitt Blocks ging es um die Heterogenität der filmischen Mittel in der Bewährungshelfer-Szene. Vorschneider gab zu, dass er Homogenität eigentlich bevorzuge, aber der Regisseur sei natürlich ausschlaggebend.
Der Hochschullehrer konstatierte, dass durch die Behandlung des Lichts in diesem Film eine Wirkung wie aus einem Guss - im Fachterminus "Look" genannt - entstehe. Vorschneider räumte ein, dass er "bei keinem Film das Licht aus der Hand gegeben" habe. Er leuchte wenn dann eher vom vorhandenen Raum ausgehend, nicht aber konzeptionell vom Erzählerischen her aus.
Karl Prümm merkte an, dass in diesem Film ein starker antispsychologischer Impetus vorwalte. Vorschneider sagte dazu, er teile die Wahrnehmung, dass Regisseur Heisenberg nicht psychologisiere, und das sei sehr gut so.
Die um 15 Uhr beginnende dritte Sitzung leitete die in der Filmwissenschaft hoch geschätzte Professorin Christine N. Brinkmann. Der Spielfilm "Madonnen" von Maria Speth handelte von Frauen, die mit wechselnden Männern zahlreiche Kinder in die Welt setzen und überhaupt mit ihrem Leben nicht wirklich klarkommen.
Brinkmann hatte aus einem Interview der Regisseurin herausgefunden, dass der auf den ersten Blick irritierende Filmtitel nichts Religiöses transportiere, sondern eben diese soziologische Gruppe von Müttern mit zahllosen vaterlos aufwachsenden Kindern. Sie fragte Vorschneider nach der Qualität seiner Zusammenarbeit mit der Regisseurin Speth.
Der Preisträger reagierte ungehalten auf diese vermeintliche Zumutung, denn immerhin sei die Regisseurin nunmal seine Ehefrau. Da sei es besonders schwierig für ihn, die richtige Trennschärfe zu halten, denn viele filmischen Entscheidungen fielen gemeinsam.
In dem Dialog zwischen den beiden auf dem Podium war von da an "der Wurm drin". Geschickt lenkte die Hochschullehrerin die Diskussion stärker in Richtung Publikumsbeteiligung.
Die spürbare Sogwirkung zwischen bildgestalterischen Einstellungen, "die einander verlangen" war eine ihrer substanziellen Beobachtungen. Auch dass Asymmetrie in einer Kadrierung Spannung auf die Darsteller lenke.
Karl Prümm meldete sich erneut zu Wort. Er wies gezielt auf die vielfältigen "Auslassungen und Verrätselungen" hin, die Vorschneiders Arbeit auch in diesem Film kennzeichneten.
Ein Kameramann aus dem Publikum brachte mit einem Zitat von Filmregisseur Helmut Dietl ein ausgezeichnetes Schlüssel- und Schlusswort: "Das Wissen über das Gemachte ist beim Macher nicht sehr ausgeprägt." Tatsächlich zeigte sich auch bei diesen Kameragesprächen deutlich, wie die Reflektionsebenen von Filmtheoretikern und Praktikern auseinanderlaufen.
Gegen 19 Uhr - nach letzten Danksagungen und Abspielen des großartigen studentischen Trailers - ging die Veranstaltung offiziell zuende. Bedauerlich erscheint im Rückblick - bei aller Zufriedenheit über das gehaltene hohe fachliche Niveau - dass diesmal nur ein geringer allgemeiner Publikumszuspruch erzielt wurde.
Jürgen Neitzel
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