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Negt forderte Emanzipation statt Anpassung

08.02.2013 (fjh)
"Bildung sehe ich als Vorrat, aus dem man schöpfen kann", erklärte Prof. Dr. Oskar Negt. Das derzeitige Bildungssystem betrachtet der Sozialphilosoph aus Hannover dagegen als "Just-in-Time-Produktion" von Wissen, das allein einer sofortigen Vermarktung dienen soll.
Unter dem titel "Emanzipation statt Anpassung - Was müssen Menschen in einer Welt der Umbrüche wissen und können?" hielt Negt am Donnerstag (7. Februar) im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität den Abschlussvortrag der Veranstaltungsreihe "Ökonomisierung oder Demokratisierung?". Der Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie der Philipps-Universität waren die Interessierten so zahlreich gefolgt, dass etliche den zweistündigen Vortrag nur im Stehen verfolgen konnten.
Angesichts des Lebenslaufs von Negt ist dieser Zustrom indes kein Wunder. Promoviert wurde er 1962 bei dem Frankfurter Philosophen Prof. Dr. Theodor W. Adorno. Danach arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent bei dessen Kollegen Prof. Dr. Jürgen Habermas, bevor er 1970 eine Professur in Hannover annahm.
Aus dem Schatten seiner weltberühmten Lehrer Prof. Dr. Max Horkheimer, Adorno und Habermas trat er 1968 mit einer bereits 1964 ausgearbeiteten Veröffentlichung über "Anforderungen an Arbeiterbildung" heraus. Seither gilt der Mitbegründer des "Sozialistischen Büros" Offenbach als einer der Wegbereiter der 68er Bewegung und Vordenker der "Kritischen Theorie".
Sein Vortrag am Donnerstagabend im Hörsaalgebäude begann brandaktuell. Einleuchtend legte der Philosoph dem Publikum in leicht verständlicher Sprache Gründe für die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise dar, die er auch als Umbruch der gesamten Gesellschaft betrachtet.
9 Billiarden Transaktionen fänden täglich an den internationalen Börsen statt, erklärte Negt. Nur fünf Prozent davon seien durch reale Produktionsprozesse gedeckt. Die restlichen 95 Prozent hingegen seien völlig abgehoben vom wirklichen Leben.
In immer schnelleren Intervallen werde immer mehr Geld verschoben. Immer größeren Summen stünden immer weniger Menschen gegenüber, die diese Vorgänge überhaupt noch verstünden.
Auch im Alltag sei die Arbeitsverdichtung ebenso wie das Privatleben immer weiter beschleunigt worden. So kämen die Menschen immer weniger dazu, ihr Handeln und die Begleitumstände ihres Alltags zu reflektieren.
Dadurch entsteht nach Negts Auffassung eine Auflösung von Bindungen der Menschen aneinander und an gemeinsame Werte. Diese Entkoppelung und Individualisierung des Einzelnen sei vom Wirtschaftssystem durchaus gewollt. Aufgrund geringererer gesellschaftlicher Solidarität ließen sich Menschen leichter zur Verfügungsmasse degradieren.
Diese Entwicklung sei auch ins Bildungswesen vorgedrungen. Schlagwörter dafür seien der "Bologna-Prozess" mit verkürzten Bachelor- und sehr spezialisierten Master-Studiengängen.
"Diejenigen, die abends beim zweiten Glaos Rotwein diese Entwicklung kritisieren, arbeiten tagsüber oft selber daran mit", warf Negt ein. Die meisten Mitmenschen sind seiner Auffassung nach nicht nur Opfer der stetigen Kommerzialiserung gesellschaftlicher Strukturen, sondern zugleich oft auch Täter.
Hier müsse ein emanzipatorisches Bildungssystem einhaken, forderte Negt. Schon vom Kindesalter an müsse es Menschen befähigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und an ihrer Verwirklichung zu arbeiten.
Statt der Aneignung von bloßem Wissen bedürfe es anderer Schlüsselqualifikationen, meinte Negt. Sein Ziel fasste er in dem Leitsatz des Philosophen Prof. Dr. Immanuel Kant zusammen: "Habe den Mut, Deinen Verstand ohne fremde Anleitung zu gebrauchen!"
Nötig dafür sei "Identitätskompetenz", die die Abgrenzung von fremden Anforderungen und damit die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit auch in einer widrigen Umgebung ermöglichen soll. Hinzu kämen "Ökonomische Kompetenz" als Respekt vor Mitmenschen, anderen Lebewesen, Dingen und der Natur sowie "Ökonomische Kompetenz" als Fähigkeit, wirtschaftliche Prozesse kritisch zu begreifen.
Schließlich forderte Negt auch einen "Möglichkeitssinn" ein, der das Hinausgehen über vorgegebene Grenzen zumindest gedanklich erlaube. Nur wem diese Fähigkeit fehle, der halte vorgegebene Lösungen für "alternativlos".
Nicht die Utopien hätten das größte Verderben über die Menschheit gebracht, meinte Negt. Vielmehr seien es die "Realpolitiker", die kurzfristige Lösungen umsetzten, ohne deren Folgen genügend zu bedenken.
Die aktuelle Krise zwinge die Menschen nun dazu, neue Wege auszuprobieren. An die Stelle übrkomener Werte und Bindungen müssten neue Strukturen treten.
Ausdrücklich warnte Negt vor rechtsextremen Populisten, die derartige Bindungsangebote unterbreiteten. Ihren Modellen von "Gemeinschaft" müsse die aufgeklärte Gesellschaft emanzipatorische Bindungsmöglichkeiten entgegensetzen. Dazu zähle auch eine ganzheitliche Bildung, die den Menschen cognitiv, emotional und sozial anspricht.
In der Glocksee-Schule in Hannover ist ein solches Modell weitgehend verwirklicht. Stolz berichtete Negt von der Praxis dieser Schule, die er seit ihrer Gründung wissenschaftlich begleitet. Hier erhalten die Kinder Projektangebote, aus denen sie sich freiwillig auswählen, was sie tun und lernen wollen.
Auf eine Nachfrage aus dem Publikum erwiderte Negt, dass diese Schule keine Privatschule sei, sondern vielmehr als staatliche Schule im niedersächsischen Schulgesetz verankert sei. Freilich habe man das vor gut 40 Jahren nur unter sehr günstigen Umständen durchsetzen können.
Auf Nachfragen nach dem pädagogischen Umgang mit dem Internet und anderen Kommunikationstechnologien meitnte Negt, man solle Kinder von diesen "Spielzeugen" nicht fernhalten. Wichtig sei, dass sie sie als Medium für Erkenntnis- und Wissensvermittlung nutzten und nicht als eigenständige "Welt" mit Suchtpotenzial.
Lebhaft und zugleich tiefschürfend erläuterte Negt seine Sicht auf Bildung in der Gesellschaft des angehenden 21. Jahrhunderts. Mehrfach erntete er für pointierte Darstellungen Gelächter oder Beifall. Ein Minutenlanger Schlussapplaus belegte die Begeistrung der Anwesenden über seinen kenntnisreichen, informativen und zugleich analytischen Vortrag.
Die vorgeblichen "Philosophen", die ihre unreflektierten Sprechblasen mit gespreizter Eitelkeit in Fernseh-Talkshows unnötig kompliziert absondern, verwies der 78-jährige Referent mit seinem lockeren Vortrag auf die hinterste Ersatzbank. Wären doch nur mehr Menschen so engagiert, selbstkritisch, gebildet, witzig und zugleich tiefschürfend wie er!
Franz-Josef Hanke
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