18.01.2008 (jnl)
"Postpunk" hatte am Donnerstag (17. Januar) rund 40 Leute ins G-Werk gelockt. Dort stellte der Musik-Journalist Simon Reynolds sein neu auf Deutsch herausgekommenes Buch dazu im Theatersaal vor.
Das fast 600 Seiten umfassende Werk gilt bei der Kritik als ein Meilenstein der Musik-Geschichtsschreibung. Der aus seiner Wahlheimat New York eingeflogene Brite startete seine deutsche Lesetour in Marburg, begleitet von seiner Übersetzerin Conny Lösch.
Titelgebend für das Buch war ein Song der schottischen Band "Orange Juice": "Rip it up and start again". Auf Deutsch hieße das: "das Schalgewordene abräumen und immer wieder neu anfangen."
Das war zugleich eine programmatische Aussage für die Praxis jener musikalisch bahnbrechenden Jahre. Sie beschreibt den Nukleus der umwälzenden Bewegung der damaligen Rockmusik-Szene.
Die Epoche des Postpunk zwischen 1978 und 1984 war rockmusikalisch herausragend. Erst nachdem die kurzlebige britische Punk-Bewegung eine Bresche geschlagen hatte, wurde vieles Neue möglich. Beispielsweise gab es erstmals reine Frauen-Rockbands wie "Raincoat" oder "The Slits".
Als Hörbeispiel wurde ein Video der deutschen Frauenband "Malaria" eingespielt. Vorher gab es auch als Rollenmodell für Rock-Instrumentalistinnen nur Moe Tucker von "Velvet Underground".
"Postpunk" war laut Reynolds nicht ein Musikstil, sondern eine neue Haltung, ein "space of possibility". Auf breiter Front war man seinerzeit willens, völlig Neues zu probieren und bis an die Grenzen durchzuziehen.
Eine Schlüssel-Band war in der Frühphase "Public Image Limited" (PIL). Sie war eine Art Anti-Sexpistols. Gegründet wurde sie, weil John Lyndon das alte Konzept absolut satt hatte. Er stellte damit um auf eine "coalition of punk and funk" , also auf extrem tanzbare Innovation.
Eine Zwischenphase waren die Düster-Art-Rocker von "Throbbing Gristle". Ihre später "Industrial Sound" genannten Lärm-Orgien verweigerten sich absichtsvoll jeder leichten Konsumierbarkeit.
Ähnlich obskur waren die zeitweilig ziemlich zeitgeistigen Kommunarden von "Scritti Politti". Diese Gruppe um den Guru "Green" suchte die Einheit von Kunst und Leben in nächtelangen Diskussionen und Aufputschmitteln.
Der eigentliche Hintergrund der Epoche aber war der unermüdliche Wettbewerb zwischen vier wöchentlich in Großbritannien erscheinenden Rockmusik-Zeitschriften. Hilfreich war auch das durch den legendären John Peel im Spätabend-Radioprogramm der British Broadcasting Corporation (BBC) eröffnete Eingangstor der Szene zu einem breiteren Hörerpublikum.
Das soziale Rückgrat indes waren die zahllos aus dem Boden sprießenden kleinen Band-Szenen und Independent-Verlage. Der bekannteste Postpunk-Vertrieb "Rough Trade" begann als Plattenladen und wurde später eine der wichtigsten Drehscheiben. Entscheidend war die "Do it Yourself" (DIY) - Haltung, die sehr viele
Akteure damals kennzeichnete.
In der Spätphase des Postpunk unterschrieben einige Bands Plattenverträge bei den Major-Labeln. Sie wollten die Insider-Kreise hinter sich lassen. Und tatsächlich gab es etliche Charts-Erfolge.
Viele Anhänger empfanden das als Verrat. Die Musiker hingegen behaupteten, darin einen Weg der Subversion gefunden zu haben. Sie nannten es New Pop und propagierten es als Mittel, ihre Inhalte und Musik in die Mehrheits-Gesellschaft zu verbreiten.
Als Endpunkt der Postpunk-Epoche benannte Reynolds die Charts-Erfolge von "Frankie goes to Hollywood". Deren wichtigste Mitglieder stammten ursprünglich aus der Punk-Bewegung und gingen nun doch im Pop-Mainstream bruchlos auf. Von einigen Radiostationen wurden sie allerdings auf Schwarze Listen gesetzt, weil sie aus ihrem Schwulsein kein Geheimnis machten.
In der Fragerunde wurde thematisiert, ob hier der Kapitalismus wieder einmal eine soziale Bewegung aufgefressen und als Verjüngungskur genutzt habe. Reynolds meinte, das könne man vielleicht so sehen. Andererseits verwies er auf das Weiterbestehen vieler kleiner Projekte und Labels auch nach dem Ende der Ära.
Ein weiteres Thema war der nicht zu unterschätzende Einfluss der Schwarzen Musik, namentlich des Dub-Reggae.
Abschließend ist anzumerken, dass sich Reynolds Buch ausschließlich auf die Szene in Großbritannien und den USA beschränkt. Als einzige deutsche Bands wurden die "Einstürzenden Neubauten" und "Malaria" genannt.
Jürgen Neitzel
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