02.12.2012 (jnl)
"Kleider machen Leute", sagte man früher. Aber wieviel daran ist gelogen?
Die Weihnachtsinszenierung des
Hessischen Landestheaters Marburg hatte am Samstag (1. Dezember) in der Stadthalle Premiere. Regisseur Fabian Sattler hat aus der Märchenparabel "Des Kaisers neue Kleider" von Hans Christian Andersen eine kurzweilige, kindgerechte Inszenierung gemacht, die in Bildern schwelgt.
Um die Bedeutung von Kleidern dreht sich darin fast alles. Außerdem geht es um die offensichtlich fehlende Wahrheitsliebe von Erwachsenen.
Die Geschichte schildert einen Kaiser, der Betrügern glaubt, die ihm "unsichtbare" Prachtgewänder fertigen. Der Schwindel fliegt erst spät auf, da die meisten Erwachsenen lieber lügen, als sich für dumm erklären zu lassen.
Turbulent und alltagsnah setzte die Inszenierung bei dem von den meisten Kindern bei ihren Müttern beobachteten Drama "Ich hab nichts anzuziehen" an. Der Kaiser ist zwar ein junger Mann, hat aber offenbar das gleiche Problem.
Die ganze Riesenbühne hängt voller Kleidung, aber es muss neue Pracht her. Zwei Minister mit finsteren Plänen wollen ihren Reibach machen und jagen den Modeschöpfer davon.
Der boshafte Reichskanzler Graf Lüppo stellt neue Hofschneider ein, um diese Minister zu entlarven. Alle - selbst der Kaiser - fallen zunächst auf die neuen "unsichtbaren" Kleider herein.
Erst die Reinmachfrau lässt sich nichts vormachen. Sie spricht es aus: "Der Kaiser ist ja nackt". Aber die Genasführten lassen sich dennoch nicht beirren.
Indem die handelnden Figuren alle nicht sehr komplex sind - Johannes Eimermacher als "Schneider Mitchi" gar eine Art "Hein Blöd" mimt - können selbst Vorschulkinder dem Gezeigten leicht folgen. Ein Rückgriff auf die Strickmuster des Kinderkrimis, den die meisten Kinder von Fernsehen, Comics und Hörkassetten längst kennen, garantiert die Verständlichkeit der Geschichte.
Natürlich sagen "Kinder und Narren die Wahrheit" ohnehin; das brauchen sie nicht erst zu lernen. Aber das Mitansehen der Unehrlichkeit von Erwachsenen bringt ihnen viele wertvolle Fragen nahe.
Kaum wiederzuerkennen war das Ensemble-Mitglied Daniel Sempf in der parodistischen Rolle als verrückter Modeschöpfer Maestro Rambaldi, der eine fulminante Modenshow zeigte. Glänzend agierte Sebastian Muskalla als Kanzler Graf Lüppo, der mit List und Tücke den Hofstaat aufmischte.
Als Hauptdarsteller flogen Gast-Schauspieler Moritz Fleiter die Herzen nur so zu, weil er mit Verve und sympatischer Ausstrahlung trumpfte. Er war sich auch nicht zu schade, kindgerecht als "Kaiserpinguin" auf dem Bauch zu rutschen.
Die beiden Minister-Ganoven Jürgen Helmut Keuchel und Tobias M. Walter
kamen in Aufzug und Mimik daher, als wären sie aus einem "Graphic-Novel"-Comicbuch entstiegen. Als weitere Sympathieträger der kleinen Zuschauer traten in Nebenrollen Michael Köckritz als Major Stiefel und Franziska Knetsch als Frau Grobitsch auf.
Das großartige Bühnenbild von Tobias Schunck prägte die Riesenbühne der Stadthalle als "Himmel voller Kleider". Für die stilgerechte Modenschau und zur Veringerung der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum sorgte ein zwei Meter langer Vorbau in der Bühnenmitte.
Die von Anne Brügel besorgte Kostümierung der Darsteller war eine Augenweide. Mit seinem weißen Outfit mit Glanzpapier-Krone hätte "Kaiser" Moritz Fleiter auch einen formidablen "Kleinen Prinzen" nach Antoine de Saint-Exupéry gegeben.
Nach der - entgegen der Broschürenangabe von 70 Minuten - nur 55-minütigen Aufführung standen alle Schauspieler den Kindern im Foyer als Autogrammgeber und Fragenbeantworter zur Verfügung. Diese schöne Tradition trägt sicher nicht wenig zum Erlebnis der Veranstaltung bei.
Die ästhetische Erneuerung des Weihnachtsmärchens hin zum Kinderkrimi-Abenteuer hat das Hessische Landestheater mit dieser Inszenierung gekonnt vorangebracht. Die frische, lebendige Machart sollte für bestens besuchte Vorstellungen garantieren.
Jürgen Neitzel
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