13.11.2012 (jnl)
Rassistische Fangesänge und Konflikte sind seit Jahrzehnten Begleiterscheinung in der deutschen Fußball-Fanszene. Dieses virulente Thema riss der Vortrag des Politologen Stefan Hebenstreit am Montag (12. November) im Hörsaalgebäude der
Philipps-Universität an.
Der Doktorand im Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) beschwor mittels etlicher Zitate das Bild des Fußballs als Spiegelbild der Gesellschaft. Der real vorhandene Rassismus in der Bevölkerung komme eben rund um die Bundesligaspiele nur krass zum Vorschein.
Aus nicht nachvollziehbaren Gründen hielt er es für angemessen, ausführlichst einen historischen Exkurs zur Historie jüdischer Sportvereine in Deutschland zu verlesen. Sattsam bekannte Tatsachen, die leider wenig mit dem angekündigten Vortragsthema zu tun hatten, wurden dazu 10 Minuten lang ausgebreitet.
Wie erwartbar, konnte der Referent Ähnliches zur Geschichte muslimischer Sportvereine nicht darstellen. Solche meistenteils türkischen Vereine gibt es zu wenige oder zumindest keine veröffentlichten soziologischen Studien darüber.
Exemplarisch schilderte Hebenstreit je vier Beispiele aus der deutschen und österreichischen Skandalgeschichte, wo antijüdische oder islamophobe Pöbeleien durch Fußballfans bekannt geworden waren. Er wies darauf hin, dass es zunehmend einen Antisemitismus in den Stadien gebe, der "ohne reale Anwesenheit von Juden auskommt".
Interessanter als der Vortrag war die Diskussion danach. Von den rund 80 Interessierten waren etwas mehr als die Hälfte Studierende aus der Konfliktforschung, die sich als sehr lebhafte Fragesteller erwiesen.
Der Erwartungsdruck, dass die eigene Mannschaft siegen müsse und die nationalistische Aufladung sprächen dafür, dass Fußball teilweise den Krieg simuliere. Der Referent verneinte eine solche Analogie, obschon er Schwarz-Weiß-Denken in Freund-Fein-Kategorien bei den Fans eingehend beschrieben hatte.
Moderator PD Dr. Johannes Becker merkte an, dass er selbst unter anderem Sport studiert habe, solche Auswüchse wie im Fußball in seiner Sportart Basketball aber nie erlebt habe. Jedenfalls sei der Fußball aufgrund der enormen Kommerzialisierung längst kein sozialer Freiraum mehr.
Mehrere Fragesteller verlangten eine verständliche Darstellung der diversen Fangruppen- Charakteristika. Der Referent verweigerte eine solche soziologische Analyse jedoch mit dem Hinweis, das wäre abendfüllend.
Zu der Gruppe der "Ultras" erläuterte er, dass um diesen Begriff medial viel Verwirrung herrsche, da er in seinem Ursprungsland Italien Anderes bedeute als in Deutschland. Keineswegs dürfe man diese Gruppierungen durchweg als Rechtsradikale verkennen.
In einem norddeutschen Beispiel, wo die Ultras kollektiv Stadionverbot bekommen hätten, wären danach schlimmere rechtsextreme Pöbeleien vorgekommen als zuvor. Ultras hätten verschiedentlich sehr zur Befriedung der Fanszene beigetragen.
Nach einer am Tag des Vortrags publizierten neuen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmten in Deutschland 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung antisemitischen Stereotypen zu. 40 bis 50 Prozent hätten islamophobe Vorurteile. Hebenstreit wollte indes gerade den Fußballsport prinzipiell als geeignet dafür preisen, um Feindbilder und Vorurteile zu überwinden und ein interkulturelles und interreligiöses Miteinander zu fördern.
Einige Fakten seien zu wenig bekannt. So berichtete er, dass Deutschlands "Fußballer des Jahres 2008" Frank Ribeiry zum Islam konvertiert sei und daher nun Bilal Jussuf Mohammed heiße. Auch erinnerte er daran, dass Länderspiele zu Bundestrainer Sepp Herbergers Zeiten noch "Länderkämpfe" genannt wurden.
Immer wieder fiel auf, wie sich Hebenstreit stark dafür machte, die rassistischen Fans als bloße unreflektierte "Provokateure" zu entschuldigen. Ihre Verhöhnungen und Beschimpfungen hätten zumeist das Ziel, größtmögliche Wirkung zu erzielen, ohne dass eine rechtsradikale Weltanschauung dahinterstünde.
Der bleibende Eindruck war, dass dieser Doktorand von echter Fußballexpertise erfüllt ist, aber sehr wenig sozialwissenschaftliches Erkenntnisinteresse zeigte. Muss so jemand, der beruflich Lobbyist und Schönredner des Fußballs zu werden sich anschickt, unbedingt einen Doktortitel erwerben?
Jürgen Neitzel
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