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Erlösung gesucht


Sabbat in der Jüdischen Gemeinde Marburg

20.08.2012 (mal)
"So ich Dein vergesse Jerusalem, so versage mir meine Rechte. Es klebe mir die Zunge am Gaumen, so ich Dein nicht gedenke.“, ist auf einem Schild im Eingangsbereich zu lesen. Selbst wenige Minuten vor Beginn der Veranstaltung ist die kleine Synagoge an der Liebigstraße am Freitagabend halb leer.
Ziel meines Besuchs ist die Jüdische Synagoge im Südviertel. Dort soll am Freitag (17. August) und am Samstag (18. August) der wöchentliche Sabbat-Gottesdienst stattfinden.
Vor der Synagoge steht ein Streifenwagen der Polizei. Da es immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen und Übergriffen auf Synagogen kommt, werden die Eingänge regelmäßig von Polizisten bewacht, wenn sie nicht gerade selbst rechtsextreme Aktivitäten betreiben. Unter den hoffentlich wachsamen Augen der Beamten betrete ich das Gebäude.
Bei einem Besuch in der Synagoge müssen alle Männer ihren Kopf mit einer Kippa bedecken. Sie signalisiert Gottesfurcht und Bescheidenheit. Leider finde ich neben der Tür zum Altarraum keinen Korb mit ausleihbaren Kopfbedeckungen, wie es aber gemäß meinem „Knigge der Weltreligionen“ der Fall sein sollte.
Beim Betreten habe ich einem Paar mittleren Alters die Tür aufgehalten. Diese Leute signalisieren mir nun, dass die Kippot in der untersten Schublade einer Kommode auf dem Flur zwischen Eingangsbereich und Gebetsraum liegen. Das sich gute Manieren sehr wohl bezahlt machen, zeigt mir diese Situation ganz deutlich.
Zufallscharakter hat die religiöse Zusammensetzung der Gemeinde. Sie lässt sich keiner jüdischen Hauptrichtung zuordnen. Nach dem Holocaust wurde eine Einheitsgemeinde proklamiert. Konfessionelle Unterschiede sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
Direkt gegenüber der Tür des Gebetsraums steht ein hölzerner Sichtschutz. Ich folge dem Rundweg bis zum Ende des Raums. Dort verschwinden die Holzplatten im Boden und schaffen Raum für bequeme Sitzmöglichkeiten. Auf einem gepolsterten Stuhl in der letzten Reihe nehme ich Platz. An einem jüdischen Sabbat-Gottesdienst habe ich noch nie teilgenommen, fährt es mir durch den Kopf.
Der Sabbat ist vorzugsweise im Judentum der siebte Wochentag, der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstagabend dauert. Gemäß biblischer Überlieferung gilt er als ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Er wird von den Juden als ein Geschenk Gottes betrachtet und ist vor allem auf das Spirituelle ausgerichtet.
Die Sitzreihen sind in Richtung der vom Sichtschutz versperrten Tür ausgerichtet. In der Mitte des Raums steht ein rechteckiger Altar aus Stein. Vor eben diesen Altar tritt um 19 Uhr der Rabbiner. Er begrüßt alle Gemeindemitglieder und Gäste. Dann dreht er den Anwesenden seinen Rücken zu. Er spricht einen feierlichen Segen.
Der erste Sabbat-Gottesdienst beginnt. Er wird komplett in hebräischer Sprache gehalten.
Mit dem Gebetslied "Jedid Nefesh“ versetzt sich die Gemeinde in eine entsprechende Atmosphäre. Gesungen wird im Kanon. Manchmal verstummt die Gemeinde und der Rabbiner singt eigene Liedzeilen. Einige Passagen werden von der Gemeinde mitunter nur ganz leise rezitiert.
Nach dem gemeinsamen Singen rezitiert der Rabbiner sechs Psalme. Jeder einzelne Psalm steht symbolisch für einen Tag der Schöpfungsgeschichte. Auch die Allmächtigkeit Gottes wird bezeugt.
Nun fordert der Rabbiner die Gemeinde auf, sich zu erheben. Gemeinsam wird das Gebet "Lecha Dodi“ rezitiert. Es basiert auf der talmudischen Beschreibung der freudigen Begrüßung des Sabbat. Bei der letzten Strophe dreht sich die Gemeinde in Richtung Westen. Sie verbeugt sich bei dem Satz "Komme oh Braut!“ nach links und rechts.
Grund dafür ist die Annahme, dass die "Braut Sabbat“ genau in diesem Moment in die Synagoge einkehrt. Daher wird sie im Stehen begrüßt.
Der Vergleich des Sabbat mit einer Braut soll scheinbar Gefühle der Schönheit und Heiligkeit vermitteln. Diese Gefühle werden bei den darauf folgenden rezitierten Psalmen aufgesogen.
Die Gemeinde nimmt wieder Platz. Der Rabbiner beginnt mit dem Singen des Heiligungsgebetes "Kaddisch der Trauernden“. Nach einer Weile stimmt die Gemeinde mit ein. Das Gebet ist im Wesentlichen eine Lobpreisung Gottes.
Im weiteren Verlauf des Gottesdienstes wird die Mischna vom Rabbiner vorgelesen. Sie ist die erste größere Niederschrift der mündlichen Tora und als solche eine der wichtigsten Sammlungen religionsgesetzlicher Überlieferungen des rabbinischen Judentums. Welche Textpassagen allerdings vorgetragen werden, vermag ich aufgrund meiner mangelnden Hebräisch-Kenntnisse nicht zu sagen.
Mit einem gemeinsamen Abendgebet und traditionellen Segenswünschen endet der einstündige Gottesdienst. Der Rabbiner verlässt als Erster den Raum. Anschließend verlassen auch die Gemeindemitglieder die Synagoge.
Am nächsten Tag hat sich die Gemeinde um 10 Uhr wieder in der Synagoge eingefunden. Die Zahl der Teilnehmer ist seit dem Vortag nochmals gesunken. Ich nehme abermals in der letzten Reihe Platz. Eine ältere Frau macht mich darauf aufmerksam, dass in den hinteren Reihen nur Frauen sitzen dürfen. Also setze ich mich einige Reihen weiter nach vorne. Wo der Männerbereich aufhört und wo der Frauenbereich beginnt, ist für mich nicht ersichtlich.
Gefeiert werden Sabbat und "Rosch Chodesch“. Letzteres ist die Bezeichnung für den ersten Tag eines jeden Monats im jüdischen Kalender, der in diesem Mondkalender immer ungefähr mit der ersten Sichtbarkeit der Mondsichel nach dem Neumond zusammenfällt.
Abermals begrüßt der Rabbiner die Gemeinde und dreht sich dann zum Altar um. Melodisch singend, rezitiert er das Morgengebet. Gleichzeitig legt er sich den traditionellen Gebetsschal um. Abrupt verstummt er dann. Eine Schweigeminute wird gehalten.
Kurze Zeit später kündigt der Rabbiner "Kaddisch der Trauernden“ an. Die Gemeinde erhebt sich und beginnt, im Kanon zu singen. Gegen Ende des Lieds singt nur noch der Rabbiner. Dann verstummt auch er. Jedes Gemeindemitglied betet die restlichen Strophen im Stillen.
Die Gemeinde setzt sich wieder. Der Rabbiner stimmt das "Lied am Schilfmeer“ an. Es markiert den Höhepunkt der Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten. Der rhythmische Gesang wird dabei textgemäß angepasst. Bis zur Textstelle über die Meeresteilung singen alle Anwesenden schnell und hektisch. Eine weitere Passage singt der Rabbiner alleine. Die Teilung des Meeres signalisiert er mit entsprechenden Gesten. Leise – fast schon zaghaft – besingen die Anwesenden die Durchquerung des geteilten Meeres. Inbrünstig und voller Leidenschaft werden im Folgenden der Untergang des Pharaos in den Wassermassen und die weitere Flucht besungen.
Die Tora-Rolle nimmt eine zentrale Bedeutung im zweiten Teil des Gottesdienstes ein. Hinter dem Altar steht ein wuchtiger Schrein. An ihn tritt der Rabbiner heran. Er öffnet die beiden Holztüren. Er betet. Die Anwesenden sehen ehrfürchtig zum Schrein.
Vorsichtig hebt der Rabbiner eine blaue Rolle aus dem Schrein. Langsam tritt er vom Schrein zurück. Anschließend dreht er sich um und legt die Rolle auf den Altar. Vorsichtig wird die Schutzhülle von der Tora-Rolle gezogen.
Einzelne Teilnehmer eilen zum Altar und bestaunen die Tora-Rolle. Sie küssen erst ihren Gebetsschal und berühren mit ihm dann das entblößte Heiligtum.
Auch der Rabbiner küsst seinen Gebetsschal und berührt mit ihm dann die Tora-Rolle. Als nächstes rollt er sie auseinander und beginnt mit der traditionellen Tora-Vorlesung. Andächtig lauschen die Anwesenden den Worten des Rabbiners. Nach einer Stunde endet die Vorlesung.
Danksprüche und Segnungen dominieren den weiteren Verlauf. Einzelne Teilnehmer treten an den Altar heran. Sie reichen dem Rabbiner ihre Hände und tragen ihre Wünsche vor. Er ruft daraufhin Gott an, nennt den Namen des Bittstellers und spricht Segenswünsche oder Gebete.
Gegen Ende der Veranstaltung wird die Tora-Rolle wieder zusammengerollt und in die Hülle zurückgesteckt. Der Rabbiner hebt sie feierlich über seinen Kopf. Singend dreht er sich zum Schrein um. Betend wird die Tora-Rolle zurückgelegt.
Die Gemeinde erhebt sich abermals und singt gemeinsam das Schlussgebet. Sie erhält vom Rabbiner einen traditionellen Segen. Als nächstes erfolgen Verbeugungen in Richtung des Rabbiners und des Schreins.
Mit dem feierlichen Ausruf "Shabbat Schalom!“ wird der Gottesdienst um 12.30 Uhr gemeinschaftlich beendet. Die Anwesenden strömen zum Ausgang. Auch ich mache mich auf den Heimweg. Es war faszinierend, einen jüdischen Sabbat zu erleben. Ohne Hebräisch-Kenntnisse versteht man leider aber allenfalls die Hälfte.
Martin Ludwig
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