13.08.2012 (mal)
"Meine Zeit steht in Deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig in Dir.“, ist auf einem Schild im Eingangsbereich zu lesen. Bereits um 9 Uhr ist die kleine Kirche an der Schubertstraße bis auf den letzten Platz gefüllt. Es herrscht eine heitere Stimmung. Die Gäste führen muntere Gespräche.
Ziel meines Besuchs ist die Adventgemeinde im Marburger Stadtteil Cappel. Dort soll am Samstag (11. August) der wöchentliche Sabbatgottesdienst stattfinden.
Vor dem Altarraum beobachte ich kurz vorher eine rituelle Fußwaschung. Zwei Partner waschen sich als Symbol der Demut gegenseitig die Füße und signalisieren dann mit einem Bruderkuss die Versöhnung. Die Altersstruktur der Gemeinde ist sehr gemischt. So haben die Jungen und Alten separate Gruppen gebildet, wobei dann auch noch die Geschlechter voneinander getrennt sind.
Die Fußwaschung gilt als Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl. Ich suche mir rasch einen Platz im Altarraum. An einem Samstag habe ich noch nie einen Gottesdienst besucht, fährt es mir durch den Kopf. Ich kannte bisher nur den Sonntag als Ruhetag.
Der Sabbat ist vorzugsweise im Judentum der siebte Wochentag, der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstagabend dauert. Gemäß biblischer Überlieferung gilt er als ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Im Christentum hat der Sonntag den Sabbat weitgehend abgelöst. Die evangelische Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (STA) hält an dieser jüdischen Tradition jedoch nach wie vor fest.
Die spartanisch eingerichtete Kirche gefällt mir. Protziger Tand und mittelalterliche Einrichtungsgegenstände von voluminösen Umfang fehlen gänzlich. Die modernen Stühle mit weichen Sitzkissen sind sehr bequem. Vorne steht ein hölzernes Rednerpult mit Mikrofon. Dahinter prangt ein riesiges und dennoch schlichtes Holzkreuz an der Wand. Jeweils links und rechts davon steht ein Tisch. Auf dem rechten Möbelstück stehen verschiedene Gebetskerzen; frische Blumen in kräftigen Farben schmücken den linken Tisch. Porträts der wichtigsten Personen der Adventbewegung zieren die Wände.
Die Siebenten-Tags-Adventisten sind ein sichtbares Ergebnis der Aufbruchsbewegung im europäischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Die ursprüngliche Adventbewegung ging bereits für das Jahr 1843 von der Wiederkunft Christi aus, zerbrach allerdings infolge des Nicht-Eintreffens dieser Erwartung. Unter der Leitung von James White und Joseph Bates formierte sich daraufhin eine Gruppe, die sich auch namentlich an der anhaltenden Erwartung der Ankunft von Jesu Christi in der Endzeit orientiert. Bereits in den Anfangsjahren war diese Gruppe missionarisch in Deutschland tätig. Ihre Tätigkeiten kamen durch die Zeit des Nationalsozialismus - insbesondere wegen ihrer pazifistischen Einstellung - fast vollständig zum Erliegen. Erst nach den Wirren des zweiten Weltkriegs kam es in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Neugründung. Auch in Marburg konnte sich wieder eine neue Gemeinschaft bilden.
Als Fremder werde ich sofort identifiziert. Ob ich gerade erst nach Marburg gezogen oder jemandes Gast sei, werde ich von meinen Sitznachbarn neugierig gefragt. Beides verneine ich. Von meinem Interesse für unterschiedliche Religionen und entsprechende Zeremonien berichte ich und das ich gegenwärtig keiner Gemeinschaft angehöre und es aufgrund meiner neutralen sowie pluralistischen Einstellung auch nicht möchte.
Die Gläubigen akzeptieren das, obgleich sie einen exklusiven Monotheismus vertreten.
Früher irrten sie ziellos durchs Leben, erzählen sie mir. Sie waren nie zufrieden mit dem, was sie besaßen. Dann habe Gott ihre Herzen berührt und ihnen einen neuen Weg offenbart. Seit dem sei ihre spirituelle Beziehung zu Jesus ein zentrales Element in ihrem Leben.
Pünktlich um 9.30 Uhr unterbricht ruhige und besinnliche Klaviermusik alle Gespräche. Eine junge Frau hat am rotbraunen Klavier Platz genommen, das seitlich versetzt vom Blumentisch steht. Nach fünf Minuten verstummt die Musik und es ist völlig still in der Kirche. Ein Mann mittleren Alters schreitet auf das Rednerpult zu. Statt einer Robe trägt er einen schwarzen Anzug mit blauer Krawatte. Der erste Teil des Gottesdienstes beginnt.
Zunächst begrüßt der Prediger die Anwesenden mit freundlichen Worten. Dann liest er einen Bibeltext aus dem Buch des Propheten Zefanja vor und verweist auf das richtungsweisende Thema des heutigen Gesprächs. Um „die Übrigen“ oder „die Anderen“ wird es heute gehen. Abgerundet wird seine Lesung durch ein Dankeslied, in dem Jesus bewundert und gefeiert wird. Klaviermusik begleitet den Gesang.
Eine weitere Zeitspanne lebt von Selbstbeiträgen der Gemeinde. Verschiedene Personen – darunter auch meine Sitznachbarn – treten nun ihrerseits abwechselnd an das Rednerpult. Sie reden über ihre Wünsche, was sie bewegt und warum der Glaube so einen wichtigen Stellenwert in ihrem Leben hat. Einige bedanken sich bei Gott für ihre Gesundheit oder für persönliche Erfolge. Andere bitten um Beistand für kommende Aufgaben und Ziele. Jeder Beitrag endet mit einem kollektiven „Amen!“. Dann werden Brot und Traubensaft durch die Reihen gegeben. Der Prediger mahnt zur Einkehr und Buße.
In einem weiteren Lied wird das Suchen nach Gottes Nähe behandelt. Solange er über die Gemeinde wache, heißt es weiter, könne weder Kummer noch Leid die Seele zerreißen. Und auch die finstere Nacht könne einem nichts anhaben, weil am nächsten Tag das Böse durch Gottes Licht zurückgedrängt wird.
Die Bedeutsamkeit der einzelnen Zeilen wird durch das inbrünstige - gleichwohl melodische - Singen der Anwesenden um ein Vielfaches verstärkt.
Um 10.30 Uhr wird der gemeinsame Gottesdienst für eine Stunde unterbrochen. Das Bibelstudium in unterschiedlichen Kleingruppen dominiert den zweiten Teil.
Adventisten sehen die Bibel als verbindliches Wort Gottes und höchste religiöse Autorität. Eine wichtige Rolle spielt dabei das wöchentliche Bibelgespräch, das Bestandteil des adventistischen Sabbat-Gottesdienstes ist. Dabei diskutieren Jugendliche und Erwachsene in Gruppen über die Bibel. Für die Kinder gibt es ein separates Programm. Das Bibelgespräch wird durch ein Studienheft zur Bibel unterstützt, das von der Weltkirchenleitung herausgegeben wird.
Ich folge meinen Sitznachbarn in einen der zahlreichen Konferenzräume und suche mir einen Platz in der gemischten Studiengruppe. Der Studienleiter begrüßt mich als Neuzugang und erklärt mir, dass "Die Offenbarung an Johannes“ das derzeitige Thema darstellt. Beim letzten Mal wurde der dort auftretende Drache als "Teufel“ identifiziert. Heute gehe es um "die Übrigen“. Zunächst liest jeder der 20 Anwesenden einen Vers vor. Dann stellt der Studienleiter Fragen und die Anwesenden müssen ihm diese beantworten. Die Antworten müssen immer mit Bibeltexten begründet werden. Sehr häufig gibt es jedoch keine eindeutigen Antworten, so dass verschiedene Meinungen und Vermutungen richtig sein können. Falsche Antworten gibt es nicht.
Zusammengefasst geht es um die Rolle der Adventisten in der Endzeit. Nach der Entrückung von Christus bekämpfe der Teufel die Menschen und möchte sie von Gott fernhalten. Also streue er Hass, Zwietracht sowie Zweifel. Auch sehen sich die Christen heute stärker denn je allerlei Versuchungen ausgesetzt. Offenbar könne der Teufel nicht bekämpft werden, sondern er werde durch das Halten der göttlichen Gebote und den aufrichtigen Glauben an Gott auf Distanz gehalten. Geduld und Treue seien wichtig, da es noch sehr lange dauern könne, ehe Christus tatsächlich wiederkehren wird.
Für meine Studiengruppe sind "die Übrigen“ keine unsichtbare Größe, die in den verschiedenen christlichen Gemeinschaften zerstreut ist. Viel mehr handelt es sich dabei um eine sehr sichtbare oder konkrete Gemeinde. So liegt es in den Händen der Adventgemeinde, die Christen zu vereinen, sie zu einer - auf der Heiligen Schrift basierten - Reformation aufzurufen und die Menschen auf die Wiederkunft des Herrn vorzubereiten.
Mit einem gemeinsamen Dankesgebet wird dieser Teil des Gottesdienstes beendet. Einige der Anwesenden tragen auch individuelle Dankesgebete vor.
Wir gehen zurück in den Altarraum und nehmen unsere Plätze ein. Der dritte einstündige Teil des Gottesdienstes beginnt.
Traditionell verteilt der Prediger seine Segenswünsche. Bei einigen Familien kündigt sich Nachwuchs an; andere Gemeindemitglieder haben Geburtstag. Sie werden von ihm ebenso namentlich erwähnt und mit Gottes Segen bedacht wie die kürzlich Verstorbenen. Für Letztere wird eine kurze Schweigeminute eingelegt.
Anschließend erhalte auch ich einen Segen. Gäste sind in der Adventgemeinde äußerst selten und der Prediger ist hocherfreut über meine Anwesenheit. Für Fragen stehen die einzelnen Gemeindemitglieder natürlich jederzeit zur Verfügung.
Als nächstes wird wieder ein Lied angestimmt. Die Gemeindemitglieder erheben sich zu diesem Zweck und lobpreisen Gott. Auch wird die heilige Dreifaltigkeit explizit hervorgehoben sowie das Abendmahl und das Opfer der Kreuzigung.
Dann ergreift der Prediger wieder das Wort und hält seine Predigt. Ich bin von Anfang an begeistert, denn sie ist weder langweilig noch monoton. Der Prediger vorne am Redepult ist ein wortgewaltiger und humorvoller Rhetoriker, der die Anwesenden mitzureißen vermag. Seine Worte tönen aus den Lautsprecherboxen und erfüllen den gesamten Raum. Sehr häufig entfährt den Anwesenden ein zustimmendes "Amen!“.
Erst liest der Prediger die Verse 8 bis 12 des 4. Kapitels der Apostelgeschichte laut vor. Natürlich erklärt er auch kurz darauf, was diese Zeilen seines Erachtens nach bedeuten.
Offenbar werde dort mit Hilfe des Heiligen Geistes etwas bedeutsames ausgedrückt. In keinem anderen sei Erlösung zu finden außer in Jesus Christus. Das steht für den Prediger einwandfrei fest. Immerhin habe Jesus sich für das Seelenheil der Menschheit geopfert. Nur er könne Sünden vergeben und Menschen das Paradies näherbringen. Das sei konkurrenzlos und in keiner anderen Religion zu finden.
Christus sei der Vertreter zwischen Gott und den Menschen. Auch könne nur er die Herzen der Menschen erreichen. Aber wer der Erlöser für jeden persönlich ist, das müsse individuell in Erfahrung gebracht und anderen Menschen dann erklärt werden.
Doch entscheidend sei, dass sich eine Meinung auch wirklich selbständig und aufrichtig bilde und nicht einfach irgendwo nachgeplappert werde. Glaube sei das Fundament, aber religiöses Wissen könne nur durch individuelles Erleben vertieft und mit dem Herzen erfahren werden. Wer Erlösung wolle und Gottes Nähe suche, müsse sich auch dafür anstrengen, denn ein bloßes Lippenbekenntnis reiche da nicht aus.
Zum Schluss bittet der Prediger die Anwesenden, sich zu erheben. Gemeinsam wird das apostolische Glaubensbekenntnis gesprochen und mit einem dreimaligen "Amen“ besiegelt. Der Prediger segnet die Anwesenden.
"Ehe man anfängt, seine Feinde zu lieben, sollte man seine Freunde besser behandeln.“, mit diesen Worten beendet er den Gottesdienst augenzwinkernd. Begleitet von stimmungsvoller Klaviermusik verlässt er den Raum. Die Reihen lichten sich. Die Anwesenden strömen zum Ausgang. Jeder gibt dem Prediger zum Abschied die Hand, ehe er die Kirche verlässt. Mir wünscht er alles Gute für meinen weiteren Lebensweg und hofft, mich bald wieder in der Adventgemeinde begrüßen zu dürfen. Wenn jeder Gottesdienst so lebhaft und inspirierend ist, bin ich bestimmt nicht zum letzten Mal dort gewesen.
Martin Ludwig
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