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Populäre Religion und neue Spiritualität

22.06.2012 (mal)
"Weder verschwindet Religion, noch kann eine Rückkehr der Religion beobachtet werden“, erklärte der Soziologe Prof. Dr. Hubert Knoblauch am Mittwoch (20. Juni). "Es ist lediglich ein Wandel im religiösen Feld zu beobachten.“
Von populärer Religion und neuer Spiritualität handelte sein Vortrag in der Aula der Alten Universität. Damit wurde die jährlich stattfindende Reihe "Annual Research Lectures" fortgesetzt. Gastgeber war das Zentrum für Interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR) an der Philipps-Universität Marburg. Es sich zur Aufgabe gemacht, die vielen disziplinären Perspektiven auf das Thema "Religion" zu bündeln und damit einen Raum zu schaffen, in dem über Fächer- und Fachbereichsgrenzen hinweg eine komplexe und differenzierte Sichtweise auf religiöse Themen erfolgen kann. Religiöse Phänomene und Traditionen kommen dabei sowohl in ihren historischen, als auch in ihren zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten in den Blick. Mit einer Forschungsperspektive, die sowohl religionswissenschaftliche als auch theologische, historische, philologische, soziologische, ethnologische und auch philosophische Herangehensweisen verbindet, sollen neue Einblicke in die Funktion und Bedeutung religiöser Vorstellungen und Systeme für das menschliche Zusammenleben ermöglicht werden.
Der diesjährige Vortrag trug diesen Zielen des Zentrums in hervorragender Weise Rechnung, indem Knoblauch nicht nur über moderne religionswissenschaftlichen Theorien sprach, sondern diese auch mit praktischen Beispielen veranschaulichte.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Religion in öffentlichen und akademischen Diskussionen als ein Auslaufmodell angesehen. Angenommen wurde immer wieder, dass Religion eine gleichsam vormoderne Form der Rationalität sei und mit der zunehmenden Modernisierung absterbe. Diesem Säkularisierungsparadigma widersprach Knoblauch vehement. In neueren Theorien sei die Rede von einem dramatischen Prozess der Wiederverzauberung, der Re-Sakralisierung oder einem "postsäkularen" Zeitalter. Und doch gehen auch sie nach Ansicht des Soziologen von falschen Voraussetzungen aus. Knoblauch hingegen vertrat die These, dass Religion sich lediglich verändert und den grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft angepasst habe. Die Transformation der Religion lasse sich insbesondere an ihrer ausgeprägten Popularisierung beobachten. Religion nehme Formen der populären Kultur an und verlagere Themen auf das Subjekt als "Spiritualität".
Gerade in der heutigen Zeit stoße Religion auf eine rapide Zunahme von Interesse und Neugier. Kirchen haben zwar immer noch eine große Bedeutung, viel stärker liege jedoch das Interesse auf religiösen Aspekten außerhalb der etablierten Großkirchen. Popularisierung bedeute keineswegs nur eine Ergänzung der Religion, sondern deute auf eine massive Transformation hin, die sich in einer zunehmenden Bedeutung der Spiritualität äußere.
Begünstigt werde die Popularisierung auch durch den Gebrauch von Medien. Fernsehen und Internet schaffen eine völlig neue öffentliche Sichtbarkeit von Religion und fördern Kommunikation, Austausch und mediale Präsenz.
Kommunikation sei nicht nur als bloße Informationsübermittlung zu verstehen, sondern auch als gestaltende Form sozialen Handelns. Im Rahmen der globalen Ausweitung der Kommunikation können verschiedenste religiöse Symbole und Inhalte aus ihrem angestammten kulturellen Kontext entnommen, in einen anderen transportiert und dort rezipiert werden.
Die populäre Religion umfasse nicht nur alternative Formen wie UFO-Glaube, Reinkarnationsglaube, Esoterik oder der Glaube an die magische Kraft von Steinen oder Pyramiden. Sie finde sich ebenso in den Räumen der kirchlichen Religiosität. Dies reiche vom Engelglauben über die Eventisierung der religiösen Zeremonie beim Papstbesuch und bei den Weltjugendtagen bis hin zur Aufnahme der Gegenkultur bei den Jesus Freaks. All diese Beispiele deuten an, in welchem Ausmaß Formen der religiösen Kommunikation von denen der populären Kultur durchdrungen werden.
Diese Durchdringung weise auf eine entscheidende Veränderung der modernen Religion hin. Die Grenzen zwischen religiösen und nichtreligiösen Aspekten werden aufgehoben und es finde eine Entgrenzung der religiösen Kommunikation statt. Im Zuge dieser Entgrenzung nehmen kirchliche und andere religiöse Organisationen kommunikative Formen auf, die in der populären Kultur geschaffen und verbreitet wurden. Die Verknüpfung von Religion mit Popmusik, Themenparks und Massenevents sei keine Seltenheit mehr.
Auch seien Formate der religiösen Kommunikation aus dem religiösen Bereich ausgewandert und finden sich nun in Form von Bekenntnisformen in der Anonymen-Bewegung oder Ritualen von Sportfans wieder.
In Abgrenzung zur kirchlichen Religiosität bezeichnen sich heute sehr viele Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten als „spirituell“. Knoblauch verwies bei seinem Vortrag immer wieder auf die Subjektivierung von Religion. Statt an vorgegebenen Inhalten religiöser Institutionen zu partizipieren, rücken individuelles Erleben sowie das Streben nach eigener religiöser Erfahrungen in den Mittelpunkt der populären Religion und werden medial aufgearbeitet. Hierbei werden essenzielle Inhalte aber auch gleichzeitig neu interpretiert und weiterentwickelt.
Weil die soziale Sichtbarkeit der Religion unmittelbar an ihre Kommunikation gebunden sei, können die jüngeren Veränderungen der Kommunikationstechnologien und die damit einhergehenden veränderten Strukturen des kommunikativen Handelns als bedeutendste Gründe der Transformation der Religion angesehen werden. Die wachsenden Kommunikationsmöglichkeiten fördern auch die Globalisierung der Kommunikation. Gemeinsam mit der Migration führen sie zu einer Pluralisierung der organisierten Religion.
Martin Ludwig
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