14.06.2012 (jnl)
Wer wagt, gewinnt. Trotz des Deutschand-Spiels bei der Fußball-Europameisterschaft war der "Studium-Generale"-Vortrag mit Prof. Dr. Micha Brumlik im Auditorium Maximum (AudiMax) der
Philipps-Universität am Mittwoch (13. Juni) gar nicht schlecht besucht.
Der bekannte Erziehungswissenschaftler aus Frankfurt am Main nahm sich die - neben der Pisastudie und der Kinderarmut wichtigste - Richtungsstreit-Debatte der Pädagogik des letzten Jahrzehnts zum Thema. Als Buchautor hatte er die 2006 entflammte Medienkontroverse um die Streitschrift "Lob der Disziplin" des pensionierten Internatsleiters Eberhard Bueb ohnehin kritisch begleitet.
Im Vortrag "Bueb und die Folgen - Sehnsucht nach Unterwerfung und falsche Autonomie" schilderte Brumlik nicht nur eingehend die Vorgänge, sondern leuchtete die Hintergründe der - seinerzeit von der Bild-Zeitung und dem Magazin "Der Spiegel" lancierten - Debatte aus.
Beim Begriff "Autorität" unterschied er nachvollziehbar zwischen einem fachwissenschaftlich pädagogischen und einem weltanschaulich-politischen Gebrauch. Die reißerische Aufmachung in beiden deutschen Leitmedien zeige klar, dass keine seriöse wissenschaftsfundierte öffentliche Diskussion angestoßen werden sollte.
Ähnlich wie beim Populisten Thilo Sarrazin nutzte Bueb die verunsicherte Stimmung der Deutschen. Angesichts des "Pisa-Schocks" waren Teile des Publikums erpicht, möglichst einfache Erklärungen und Schuldzuweisungen für die schlechten Leistungen des deutschen Bildungssystems zu bekommen.
In seinem damaligen Bestseller argumentierte der pensionierte Internats-Schulleiter Bueb, dass die 68er in Reaktion auf die Nazi-Vergangenheit den "vorbehaltlosen Gebrauch der Autorität" in Deutschland verpönt hätten. Das sei aber in der Sache falsch und im internationalen Wettbewerb ein Nachteil.
Brumlik konstatierte, dass hier das Statement einer antidemokratischen Grundhaltung vorliege. In einer gelebten und ernstgenommenen demokratischen Gesellschaftsverfassung könne es gar keinen "vorbehaltlosen" Gebrauch des Autoritätsbegriffs geben.
In der - von Prof. Dr. Wolfgang Seitter ansprechend moderierten - Fragerunde des Publikums zeigte sich Brumlik als den Menschen zugewandter, nachdenklicher Diskutant und Wissenschaftler. Ohne besserwisserische Attitüde nahm er sachliche Einwände auf und vertiefte - wo nötig - die Erläuterung der Fragestellung und Problemlagen.
Einem Verteidiger Buebs beispielsweise entgegnete er, dass der Pädafoge Bueb ursprünglich ja aus dem liberalen Umfeld Hartmut von Hentigs kam. Auch in seiner stockkonservativen Wendung im Alter - mit jener Buchveröffentlichung - gebe es noch Nebenströmungen aus der früheren, liberaleren Phase des ehemaligen Reformpädagogen Bueb.
Als massenhafte Käufer des Bestsellers "Lob der Disziplin" machte Brumlik vor allem zwei gesellschaftliche Gruppen aus. Zum einen nannte er jene Lehrer, die, ohne echte Empathie und Geduld mitzubringen, aus falschen Erwägungen den Lehrerberuf ergriffen hätten.
Für solche Pädagogen, die ohne echte Neigung und Zuwendungsbegabung im Schulalltag ständen, seien die Strapazen der jugendlichen Unwissenheit und Rebellion eine alltägliche Qual. Wer ohne authentische natürliche Autorität vor Schulklassen auftrete und dabei mit bloßer Fachkompetenz schlecht zurechtkomme, wünsche sich eine traditionalistische, vorbehaltlose "Autorität qua Amt" zurück, wie sie Bueb proklamiere.
Die noch weit größere Gruppe der Bueb-Leser aber seien jene Eltern, denen die "furchtbar anstrengende Grundhaltung" einer liberalen, gewaltfreien Erzieherhaltung auf Dauer zuviel Nerven koste. Tatsächlich sei ja unendlich viel Geduld vonnöten, um immer wieder mit den eigenen Sprösslingen auszuhandeln und zu besprechen, was ginge und wo die Grenzen seien.
Brumlik erwies sich erneut als ein souveräner Fachwissenschaftler. Als glänzender Kommunikator setzte er dem Marburger Studium Generale 2012 ein Glanzlicht auf.
Jürgen Neitzel
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