20.05.2012 (fjh)
Ein Buch über den Umgang mit behinderten Menschen ist Mitte Mai unter dem Titel "Mundtot!? Wie ich lernte, meine Stimme zu erheben - eine sterbenskranke junge Frau erzählt" erschienen. Die 25-jährige Autorin Maria Langstroff aus Schwalmstadt studiert seit acht Semestern an der
Philipps-Universität im Lehramtsstudiengang Anglistik, Germanistik und Pädagogik sowie zusätzlich im Fernstudium Psychologie.
Dabei kann sie schon lange keine Vorlesungen mehr besuchen und ist auf besondere Prüfungsformen angewiesen. Wegen einer schubweise fortschreitenden - noch nicht näher identifizierten - Muskelkrankheit lebt sie seit 2010 in einem Pflegeheim.
Da sie in ihrer Bewegungsfreiheit mittlerweile fast völlig eingeschränkt und fast erblindet ist, lässt sie sich zwischen den zahlreichen Therapieterminen den Unterrichtsstoff von Freunden oder dem Computer vorlesen. Ihre Hausarbeiten diktiert sie oder tippt sie mit der rechten Hand, die als einziges Glied noch bewegungsfähig ist, in eine Handy-Tastatur.
Auf diese Weise entstand auch das Buch. Darin reflektiert sie ihre Begegnungen mit Menschen, die mit ihrer Behinderung nicht zurechtkamen.
Motiviert habe sie dabei zweierlei, berichtet Langstroff: "Zum einen möchte ich Menschen eine Stimme geben, die selbst keine Stimme mehr haben. Ich möchte für jene 8,7 Prozent der Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland aussprechen, was sonst unausgesprochen bleibt. Zum anderen möchte ich eben den Leuten, die sich abfällig und diskriminierend verhalten, die Augen öffnen."
Die Autorin will, dass sie begreifen, wie verletzend ihr Verhalten ist. Sie schreibt an gegen Diskriminierung und kämpft so für Respekt und Würde.
"Wer einmal mit ihr gesprochen hat, begreift, dass das Schlimmste für sie ist, sich in irgendeiner Form entmündigt zu fühlen“, charakterisiert sie Dr. Sabine Heuser, bei der Langstroff Anglistik studiert.
Neben verstörenden Erfahrungen hat die junge Autorin auch positive gemacht: "Sehr gern denke ich an meine Schulpraktischen Studien zurück. Meine Schüler waren ganz wundervoll."
Sie habe stets versucht, ihren Schülern Respekt entgegenzubringen. Von ihnen sei sie auch dementsprechend behandelt worden.
"Sie haben nie meinen Rollstuhl in den Vordergrund gestellt", berichtet die Studentin. "Sie haben mich meiner Ansicht nach als Mensch akzeptiert.“
Diese Erfahrung sei sehr beglückend gewesen. Denn seit sie denken könne, habe sie Lehrerin werden wollen.
"Als es ihr noch besser ging, war sie in ihrem Rollstuhl eine bekannte Figur in der Philosophischen Fakultät“, erzählt Stefan Serafin, den mit Langstroff neben dem gemeinsamen Studium eine tiefe Freundschaft verbindet. "Von ihr geht eine enorme Kraft und Zielstrebigkeit aus. Sie steckt voller Projekte und Ideen."
Die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihr verlaufe immer auf hohem Niveau. Ihn beeindrucke vor allem ihre enorme Merk- und Konzentrationsfähigkeit, die sie beim Schreiben und Redigieren ihrer Texte fast täglich unter Beweis stelle.
"Sie beharrt selbst dann noch - mit einem Lächeln auf dem Gesicht - auf korrektem Deutsch und richtiger Zeichensetzung, wenn ich für sie nur einen Kommentar auf Facebook poste“, bemerkt er.
Dr. Daniel Ahrens - Dozent am Institut für Schulpädagogik - hebt den ausgeprägten pädagogischen Blick auf Schule und Unterricht seiner Studentin hervor: "Während viele Lehramtsstudierende Methodik, Didaktik und die Effizienz von Lernprozessen im Fokus haben, gelingt es ihr immer wieder, die beteiligten Menschen in den Vordergrund zu rücken, ohne die vorne angesprochen Aspekte zu vergessen und so Anspruch mit Wertschätzung zu verbinden.“
Beeindruckt habe ihn vor allem ihr "Biss“, der eiserne Wille, mit dem sie auch unter widrigsten Umständen zum Unterricht kam. "Sogar als sie schon im Liege-Rolli lag, ließ sie sich nach der Vervollständigung einer Hausarbeit an die Uni fahren, um die Arbeit persönlich abzugeben“, erinnert sich Heuser.
"Als sich ihr Zustand verschlechterte und sie ins Pflegeheim zog, überlegte ich Semester für Semester, welche meiner Seminare für sie in Frage kommen, bei denen also die Nicht-Teilnahme an den Sitzungen nicht automatisch ein K.O.-Kriterium darstellte, weil sie darauf bestand, weiterhin Scheine zu machen“, erzählt Ahrens. Mit Kleingruppen habe er am Krankenbett schulpädagogisch relevante Fragen mit ihr diskutiert.
Außerdem seien alternative Prüfungsformen vonnöten gewesen, die im Pflegeheim durchgeführt werden konnten. "Sie konnte in einer Krankheitsphase überhaupt nicht mehr sprechen und musste in einem völlig abgedunkelten Zimmer liegen“, berichtet Ahrens. Ihre Antworten auf die Prüfungsfragen tippte sie mit eisernem Willen in ein Handy.
"Es war sicherlich die anstrengendste, aber eben auch beeindruckendste Prüfung, die ich bislang erlebt habe“, bekennt er. Gleich nach der Prüfung habe Langstroff per Handy angefragt, an welchem Seminar sie im kommenden Semester teilnehmen könne.
"Ich bin eine Kämpfernatur“, sagt die ehemalige Leichtathletin, die als Teenager auch modelte. Doch habe sie lange gebraucht, um ihre unheilbare Erkrankung zu akzeptieren und sich zuerst mit dem Leben im Rollstuhl, dann mit dem im Krankenbett abzufinden.
"Geholfen haben mir meine Projekte, um am Leben festzuhalten“, bekennt sie. Eines dieser Projekte sei das Buch gewesen. Nun träume sie davon, eine Lesung zu geben oder nochmals zur Uni zu gehen.
"Ich möchte versuchen, mein Studium bis zum Ende durchzuziehen", erklärt sie. "Die Frage ist natürlich, ob das zu schaffen ist.“ Ein weiteres Ziel sei, "einmal eine Klasse zu unterrichten.“
pm: Philipps-Universität Marburg
Text 7191 groß anzeigenwww.marburgnews.de