12.05.2012 (jnl)
"Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters." Diesem Wahlspruch entsprach der renommierte Maler und Zeichner Johannes Grützke schon immer besonders nachdrücklich. Die Vernissage seiner Lebenswerk-Retrospektive am Freitag (11. Mai) im
Marburger Kunstverein wurde daher mit Spannung erwartet.
Der vorgesehene Ablauf ging allerdings unerwarteterweise schief. Die Eröffnungsrednerin traf wegen einer Verspätung der Deutschen Bahn nicht rechtzeitig ein. Der anwesende Künstler sprang kurzerhand selber ein und gab eine Kostprobe seiner Weltanschauung als kompromissfreier Bildgestalter.
Machen Sie sich frei von allem "unter und hinter dem Bild" wuselnden Sprachlichem, empfahl Grützke. Die Wahrheit der künstlerischen Wahrnehmung liege immer nur im wirklich Gesehenen, niemals in den nur verkleidenden Worten.
Der bekannte Wahlspruch "Künstler zeige, rede nicht!" fand in ihm einen - jedem Schmeichlerischen abholden - Fürsprecher. Der scharfe Blick und dessen ungeschönte Umsetzung ins bildnerische Werk ist seit Jahrzehnten sein Credo.
Tatsächlich sind die ausgewählten Malereien und Zeichnungen Grützkes von ungewöhnlichem Mut zur Darstellung allzumenschlicher Schwächen und Gebrechen geprägt. Die Gruppen- und Einzelporträts zeigen eine bis ins Groteske gehende Herausstreichung markanter "Macken" der Dargestellten.
Wenn etwa eine Gruppe Männer feiert und reichlich dem Alkohol zuspricht, dann wird im Gemälde Grützkes einem der Dargestellten der Trunk gleich eimerweise verabreicht. Eine jüngere Frau spitzt überdimensionierte Lippen zum Luftkuss. Es liegt nahe, dass auf die fatale Beliebtheit der kosmetischen Chirurgie mit ihrer Hyaluronsäure angespielt wird.
Der Satire des - nur auf den ersten Blick - Unschönen und drastisch Dargestellten muss man standhalten und ihren schwarzen Humor herauslesen. Es lohnt sich sehr, nahezu jedem der Bildwerke eine eingehende Betrachtung zu widmen, um die zahlreichen darin eingebauten Hinweise und Rätsel zu entschlüsseln.
Der Pinselstrich Grützkes ist zuweilen wuchtig und feinfühlig zugleich. Seine zahlreich vertretenen Selbstportraits zeigen - mit einer großen Bandbreite von Stilmitteln - tatsächlich recht unterschiedliche Facetten dieser Persönlichkeit.
Zwei Prominente sind als Portraits vertreten. Der Berliner Schriftsteller Günter Kunert wird zu einer raubvogelartigen Karikatur, die man trotzdem treffend nennen möchte. Der Politiker Klaus Wowereit wird - ganz ohne Satire - einmal nicht als "Partylöwe" sondern als Machtmensch mit grauen Haaren und abschätzigem Blick erkannt.
Während treppauf die opulenten Großformate einer Gesellschaftskritik durch Malerei zur Auseinandersetzung herausfordern, zeigt der hintere Saal parterre mit den Zeichnungen eine andere Seite des Künstlers. Vornehmlich bei Frauenportraits wird Grützke deutlich weniger hart und der Person - statt ihren Macken - zugewandt.
Pastelle und Skulpturen sind nur ganz wenige ausgestellt. Sie dokumentieren die prinzipiell offene Haltung Grützkes zur Wahl seiner Arbeitsmittel.
Dem Marburger Kunstverein ist mit dieser fulminanten Werkschau eines der deutschen Malerfürsten der Gegenwart ein echter Coup gelungen. Wer Malerei wirklich liebt und ernstnimmt, sollte in diese Retrospektive eines der ausdrucksstärksten zeitgenössischen Maler kommen.
Die enthaltene Satire auf unschöne Seiten des Alters und der Gesellschaft wird der Kunstfreund dabei leicht verschmerzen können. Genau genommen steigert die Herausforderung den Genuss.
Die entgangene Rede von Dr. Birgit Jooss vom Deutschen Kunstarchiv wird ab Mitte Mai am Empfangstresen des Kunstvereins ausliegen, versicherte dessen Vorsitzender Dr. Gerhard Pätzoldt. Die Grützke-Ausstellung läuft noch bis Donnerstag (28. Juni).
Jürgen Neitzel
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