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Fremdling


Vernissage der Foto-Kunst von Edgar Zieser

04.05.2012 (jnl)
Auf Ausstellungsnamen sollte man sich in puncto Eindeutigkeit nie verlassen. Ein schillerndes Beispiel dafür zeigte die Vernissage von Edgar Ziesers Foto-Kunst am Donnerstag (3. Mai) im Technologie- und Tagungszentrum (TTZ).
Unter dem Titel "Zeitarbeit" ging es mitnichten um dokumentarische Aufnahmen aus der Arbeitswelt, sondern um vielschichtige Arbeiten des versierten Fotografen rund um das Thema "Zeit"-Erfahrung.
Von seiner Ausbildung her ist Zieser Kunsthistoriker und im Hauptberuf Lehrer. Als Gründungsmitglied und "Säule" des Marburger Fotografen-Vereins "Blaue Linse" spielt er seit 1994 bei dessen jährlichen Gruppenausstellungen eine gewichtige Rolle. Die Solo-Ausstellung im TTZ hat Zieser erhalten, weil seine Fotografien weit über bloße technische Perfektion hinausgehen.
"Mit der Qualität seiner Licht-Inszenierungen und zum Teil aufwändig kalkulierten Langzeit-Aufnahmen überragt er das Übliche", begründete TTZ-Geschäftsführer Thomas Schneider in seiner Begrüßung die Künstlerauswahl. Zugleich verwies er auf eine intensive Zusammenarbeit mit dem Marburger Kunstverein.
Gezeigt werden in mehreren Räumen - im Parterre und treppauf im ersten Stock - insgesamt vier Werkgruppen. In Auseinandersetzung mit Gradierwerk-Wasser und Wolkenzügen entstanden zwei - aus je vier Aufnahmen bestehende - Naturbilder.
Ebenfalls im Foyer und den Räumen auf der Südseite des TTZ hängen etliche großformatige Langzeit-Belichtungen. Die - an erkennbaren Marburger Orten aufgenommenen - Bilder zeigen die enthaltenen Personen als geisterhafte Licht-Konturen.
Vor den festen Strukturen der unbelebten Welt-Bestandteile - wie Gebäuden, Tischen, Landschaft - verflüchtigen sich die nur kurzfristig an einem Ort verweilenden Menschen in konturierte Licht-Spuren. So entsteht ein wunderbarer Irritationseffekt für Betrachter, die doch so viele vermeintliche Gewissheiten mit sich herumtragen.
Im Treppenaufgang hängen zwei weitere Exponate, die dieses - jeweils aufwändig mathematisch errechnete - Bildgewinnungsverfahren auf die Spitze treiben. Auf der ersten Etage finden sich zwei Werkgruppen, die völlig andere Facetten der Auseinandersetzung mit Zeiterfahrung akzentuieren.
Auf der linken Wandseite hängen eine Vielzahl gruppierter, kleinformatiger Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus zentralspanischen Karwochen-Prozessionen. Die seit Jahrhunderten tradierten Formen während der "Semana Santa" haben im Fotografen Zieser erkleckliche Neugier entfacht. Tatsächlich dokumentieren die Aufnahmen neben beteiligten spanischen Fremden-"Legionistas" viele Kinder und junge Menschen, die die überkommenen Riten nur oberflächlich mitmachen.
Unter den unheimlichen Spitzkapuzen-Hauben, die da über die Straßen ziehen, verbergen sich überwiegend nicht Inquisitions-Nostalgiker, sondern ältere Frauen. Ihre Ehemänner sitzen währenddessen lieber in Biergärten, verriet Zieser im Gespräch. Über ein Jahrzehnt lang hatte der Lehrer kontinuierlich seine Osterferien zu Reisen nach Zentralspanien genutzt.
Die Krönung der Ausstellung sind die "Nature morte". Diese Fotografien befinden sich auf der gegenüberliegenden Wand.
Mit kaum zu übertreffendem Sinn für Nuancen und Licht etabliert Zieser "Rohmaterialien" für den kulinarischen Kochtopf. Der passionierte Hobby-Koch feiert die edlen Zutaten - Spargel und Sprotten, Entenbrust und Wachteln - in kunstreicher Inszenierung. Die Bilder lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, so lebendig und prächtig verlocken sie zum prallen Lebensgenuss.
Gleich zwei langjährige Freunde Ziesers - beide Germanistik-Professoren, davon einer im Ruhestand - hielten Einführungsvorträge. Sie unterschieden sich deutlich in Rhetorik und Wortwahl, kamen aber zu ähnlichen Schlüssen.
Der mit Zieser etwa gleichaltrige Didaktiker Prof. Dr. Arne Wrobel von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg kennt ihn seit gemeinsamen Studentenjahren. In seiner Analyse der Exponate betonte er den übergreifenden Gesichtspunkt des Anachronischen.
Aus der Zeit gefallen seien sowohl die Menschen in den Langzeitbelichtungs-Exponaten wie die Slow-Food-Stilleben oder die Rituale der zentralspanischen Semana Santa. Diese frappierende Differenz zu den gewohnten Erlebnisweisen der Bildbetrachter gebe einen lohnenden Anstoß zur Selbstvergewisserung.
Der emeritierte Marburger Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Joachim Berns sah insbesondere Mahnungen zur Vergänglichkeit des menschlichen Lebens aus den Bildern sprechen. In sehr differenzierter Form hob er die Nuancen hervor, die er - nicht nur in den von ihm sogenannten "Verhuschungsbildern" - wahrnahm.
Am Ende empfahl er, alles zu vergessen, was von ihm oder anderen Experten gesagt wurde. Entscheidend sei letzlich nur die eigene Auseinandersetzung mit den Werken.
Jürgen Neitzel
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