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Rhetorisch angezogen


Gut 1.000 Menschen demonstrierten an 1. Mai

01.05.2012 (fjh)
"Das Kapital ist arbeitsscheu geworden." Diese verblüffende Aussage begründete Prof. Dr. Georg Fülberth am Dienstag (1. Mai) mit einer ebenso erstaunlichen Erklärung: Anstatt in die Produktion von Waren zu investieren, wende sich das internationale Kapital mehr und mehr dem - anscheinend gewinnträchtigeren - Finanzsektor zu.
Anlässlich des "Internationalen Tags der Arbeit" sprach Fülberth auf der Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vor dem Rathaus. Der historische Marktplatz war jedoch nur eine Zwischenstation des Umzugs, der eine halbe Stunde zuvor beim Gewerkschaftshaus an der Bahnhofstraße begonnen hatte und mit einem lockeren Fest am frühen Nachmittag auf dem Elisabeth-Blochmann-Platz ausklang.
Gut 800 Menschen beteiligten sich an der Demonstration zum 1. Mai. Dichtgedrängt lauschten sie auf dem Marktplatz den Ausführungen Fülberths.
Der emeritierte Hochschullehrer kritisierte die menschenverachtenden Methoden, mit denen sich die Wirtschaft oft auf Kosten der Beschäftigten bereichere. Genüsslich zitierte er aus einer Broschüre, die bereits im Jahr 1953 die Käuflichkeit der Politik durch Wirtschaftsvertreter angeprangert hatte. Als deren Herausgeber nannte er dann die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), was viele Zuhörende mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nahmen.
Die sogenannten "Minijobs" und Leiharbeit prangerte Fülberth in seiner Rede ebenso an wie das Fehlen eines gesetzlichen Mindestlohns. Wenn Beschäftigte von ihrer Arbeit nicht leben können und deshalb auf zusätzliche Unterstützung durch den Staat angewiesen sind, dann ist das nach seiner Auffassung eine versteckte Subventionierung der betreffenden Arbeitgeber. Zudem führe diese Praxis zu "Armutsrenten".
Aber "der Kapitalismus" lasse sich durch hohe Gewinnerwartungen zu beinahe jeder Schandtat hinreißen, meinte Fülberth. Mit einem Zitat von Karl Marx belegte er diese Einschätzung. Für eine Profitrate von 300 Prozent sei er zu fast jedem Verbrechen bereit, hieß es dort.
Weitere mitreißende Reden warteten anschließend auf dem Elisabeth-Blochmann-Platz. Hier standen die Tarifrunde in der Metallindustrie sowie der geplante Verkauf des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) im Mittelpunkt.
UKGM-Betriebsratsvorsitzende Bettina Böttcher beschrieb auf eindringliche Weise die Situation der Beschäftigten, die nach der Privatisierung des einstmals landeseigenen Universitätsklinikums zunächst bei der Rhön-Klinikum AG und bald möglicherweise bei Fresenius um ihre Arbeitsplätze bangen müssen. Böttcher forderte die Hessische Landesregierung auf, von ihrem Rückkaufrecht Gebrauch zu machen und das Klinikum ins öffentliche Eigentum zurückzuholen.
In keinem anderen Land sei die Privatisierung von Krankenhäusern so weit fortgeschritten wie in Deutschland, berichtete Böttcher. Mit 18 Prozent liege der Anteil privater Kliniken hier sogar noch höher als in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA).
Ausdrücklichen Dank stattete die Betriebsratsvorsitzende der Bevölkerung ab, die eine riesige Solidarität mit den Beschäftigten des Klinikums gezeigt habe. Angesichts dieser Erfahrung sei sie sich der guten Gründe bewusst, wegen denen sie gerne in Marburg lebe.
Den krönenden Abschluss der Maireden lieferte der Marburger DGB-Kreisvorsitzende Pit Metz. Gleich zu Beginn wandte er sich an "die Verfassungsschützer", die "ordentlich aufpassen" sollten, dass auf der Maifeier "nun ja kein verfassungsfeindlicher Zungenschlag" zu hören sei.
Dann führte Metz allerdings aus, dass die herrschenden Praktiken der Wirtschaft für ihn den wahren Verfassungsbruch darstellen. Unter tosendem Beifall kritisierte er, dass die Beschäftigten des Universitätsklinikums nun erneut wie Inventar verkauft würden, obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits ihre Überleitung vom Land an die Rhön-Ag als Verfassungsbruch eingestuft hatte.
Kritik erntete auch der SPD-Abgeordnete Sören Bartol, der erst im April im Deutschen Bundestag gegen eine Aufhebung des Sanktionsregimes bei Hartz IV gestimmt hatte. Metz forderte die Anwesenden dazu auf, sich auch bei der Politik für menschenfreundlichere Lebens- und Arbeitsbedingungen einzusetzen.
Mit Chorgesang und flotten südeuropäischen Rhythmen klang die Maifeier auf dem Elisabeth-Blochmann-Platz am Nachmittag allmählich aus. Strahlender Sonnenschein hatte den Oberbürgermeister Egon Vaupel in seinem Grußwort schon zu der Vermutung animiert, Gott müsse Gewerkschafter sein. Die - zwischenzeitlich auf weit über 1.000 Menschen angewachsene - Zuhörerschaft mochte es angesichts der geballten Ladung Energie für weitere Kämpfe wohl gerne glauben.
Franz-Josef Hanke
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