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Solidarisch angezogen


Vormaifeier mit hessischem DGB-Vorsitzenden

01.05.2012 (jnl)
Rund 70 Menschen besuchten am Montag (30. April) die Vormaifeier der DGB-Senioren in der Waggonhalle. Gemütlich bei Kaffee und Kuchen - an Kaffeehaustischen sitzend - lauschte man den humorig bis kämpferisch gestimmten Reden der Gewerkschaftsaktiven.
Der DGB-Kreisvorsitzende Pit Metz ließ es sich - obwohl im normalen Arbeitstag stehend - nicht nehmen, eine Begrüßungsansprache zu halten. Neben der städtischen Sozialdezernentin Dr. Kerstin Weinbach waren auch der Stadtverordnetenvorsteher Heinrich Löwer und der SPD-Fraktionsvorsitzende Steffen Rink unter den Gästen.
Die Rolle des Gastgebers und Moderators übernahm an diesem Nachmittag Julius Klausmann als Nachfolger von Käte Dinnebier. Der Vorsitzende der Marburger DGB-Senioren warf den Politikern vor, spätestens in der anhaltenden Finanz- und Bankenkrise die Bodenhaftung und Vernunft verloren zu haben. Bei der Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) habe die hessische Landesregierung vollständig versagt.
Anschließend schilderte die UKGM-Betriebsratsvorsitzende Bettina Böttcher die Lage im Klinikum. Die Stimmung der Beschäftigten sei wegen starker Arbeitsüberlastung und notleidender Patientenversorgung ohnehin schlecht.
Die aktuellen Nachrichten von weiteren Stellenstreichungen sowie von einem geplanten Verkauf an den Fresenius-Konzern brächten die Wut und Angst der Beschäftigten allerdings zum Überkochen. Ohnehin finde auch ohne betriebsbedingte Kündigungen laufend ein schleichender Stellenabbau statt.
Befristete Arbeitsverträge liefen häufig ersatzlos aus. Offene Stellen würden - wenn überhaupt - nur zögerlich wiederbesetzt. Der Lösungsweg könnte nur darin bestehen, seitens der Politik endlich einen verpflichtenden Personalschlüssel für Krankenhäuser vorzuschreiben.
Die hessische Landesregierung habe indes ohnehin seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ihre Hausaufgaben nicht gemacht. "Wir lassen uns nicht ein zweites Mal verscherbeln", sagte Böttcher mit Blick auf Fresenius und forderte die Anwendung der Rückkauf-Klausel im Privatisierungsvertrag.
Die sechsfköpfige Amateur-Kabarettgruppe "Die Durchblicker" zeigte im Anschluss einen etwas langatmigen, bitterbösen Sketch zu den Zuständen im Klinikum. Heftig kritisiert wurden darin die inhumanen Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und die Gefährdung der Patienten.
Hauptredner des Nachmittags war der hessische DGB-Landesbezirksvorsitzende Stefan Körzell. In 20 Minuten gab er einen umfassenden Überblick über die politischen Positionen des Deutschen GewerkschaftsBunds (DGB). Gespickt mit vielen Zahlen, malte er ein düsteres Bild der Lage.
Die derzeit herrschende europäische Wirtschafts- und Schuldenkrise führte er auf den Kasino-Kapitalismus zockender Banker zurück. Der immer noch im neoliberalen Ideologentum verhafteten Bundeskanzlerin Angela Merkel falle dazu leider nur kontraproduktives "Sparen" ein.
Sarkastisch deckte Körzell den Widerspruch auf, dass selbst beinharte FDP-Marktradikale für Mindestlöhne einträten. Sie bezeichneten diese Vergütungsregelungen für niedergelassene Ärzte und Juristen als "Gebührenordnung". Was aber durch die dort festgeschriebenen Einkünfte für Mediziner und Rechtsanwälte gelte, das wollten die deutschen Gewerkschafter für alle Arbeitnehmer im Land.
Derzeit gebe es nach Statistiken aus dem Jahr 2011 rund 311.500 Menschen in Hessen, die im Niedriglohn-Bereich beschäftigt sind. Rund 85.000 Arbeitnehmer müssten, da sie von ihrem Arbeitslohn nicht auskömmlich leben könnten, als "Aufstocker" bei den Jobcentern zu Bittstellern werden.
Körzell nannte das Verhalten von Unternehmen, die so wenig zahlen, dass die dort Beschäftigten auf eine Aufstockung ihrer Einkünfte aus staatlichen Zuschüssen angewiesen sind, "Subventionsbetrug". Die Tarifflucht der Unternehmen, Leiharbeit und Armutslöhne mittels "Werkverträgen" seien schlimme Entwicklungen.
Der DGB-Landesvorsitzende nannte die Zahl von rund 1,5 Millionen Jugendlichen, die derzeit in ganz Deutschland ohne Berufsausbildung geblieben sind, ein systematisches Versagen. Allein in Hessen gebe es 65.000 junge Menschen, die nur durch staatliche Zuschüsse - außerhalb der Unternehmen - eine Ausbildung bekommen.
Als positives Gegenmodell zu deutschen Verhältnissen pries Körzell die schweizerische Bürgerversicherung. Dort zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch jeweils 4,2 Prozent Krankenversicherung.
Das sei seit Jahrzenten stabil und günstig, weil eben alle - Freiberufler, Beamte und Wohlhabende - gleichermaßen einzahlten. Genau das könne man sich für Deutschland nur herbeiwünschen.
Stolz zeigte sich Körzell über die seit einigen Monaten im Internet und als öffentliches Exponat eingerichtete "Reichtumsuhr". Sie reagiere auf die unsägliche "Schuldenuhr" des "Bundes der Steuerzahler" und stelle die wirklichen Verhältnisse klar.
Abschließend rief Körzell auf, gegen den geplanten Verkauf der Nassauischen Heimstätte mit Unterschriften zu protestieren. Ein gesundes Wohnungsunternehmen, das im letzten Jahr 65 Millionen Gewinn gemacht habe, dürfe nicht von der Landesregierung verschleudert werden.
Die bewährten Song-Poeten der Marburger Combo Grafitti - Holger Probst und Rainer Husel - rundeten mit zwei ihrer bissfesten Lieder den Nachmittag ab. In ihrem Stück "Punk" spießten sie die Tatsache auf, dass die deutsche Gesellschaft viel zu leicht bereit sei, Menschen im übertragenen Sinne "auf den Müll zu werfen". Danach löste sich die Veranstaltung - nach beträchtlichem Applaus - in informelle Gespräche auf.
Jürgen Neitzel
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