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Buddhistische Weltschau


Nur im ruhigen Teich spiegelt sich das Licht

08.04.2012 (mal)
Nichts als die Neugier treibt mich an einem verregneten Frühlingsabend zum Shambhala-Zentrum . Über die praktische Anwendung der theoretischen Grundlagen wissen oftmals nur die Eingeweihten einer spirituellen Lehre Bescheid, nicht aber die Außenstehenden. Deshalb will ich heute mehr über die praktische Seite des Buddhismus erfahren.
Seit über 20 Jahren ist Marburg das europaweite Zentrum einer buddhistischen Organisation, die eine bewusste Verbindung von buddhistischem Denken und dem Leben in einer westlichen Industriegesellschaft versucht. Vajradhatu ist mit seinem Shambhala-Meditationszentrum einerseits ein internationaler Anlaufpunkt und andererseits in der Verknüpfung verschiedener Traditionen ein wesentlicher Bestandteil der Meditations- und Esoterikszene in Marburg.
Keine Pagode und kein anderes turmartiges Bauwerk weist mir den Weg zum Shambhala-Zentrum unweit der Lahn. Würde ich die genaue Adresse nicht kennen, so liefe ich einfach vorbei. Nur ein Namensschild verweist auf die Besonderheit des Gebäudes.
Shambhala ist eine Schulrichtung im Vajrayana (Diamantenfahrzeug). Sie orientiert sich sehr stark am Tibetischen Buddhismus.
Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert bildeten sich in Tibet verschiedene Schulrichtungen heraus, von denen heute noch vier existieren. Vajradhatu Shambhala verbindet sie zu einer neuen Tradition.
Das Zentrum ist in einer ungenutzten Lagerhalle errichtet worden. Bunt bedruckte tibetische Gebetsfahnen in rechteckiger Form schlängeln sich an der weißen Außenseite des Gebäudes entlang.
Die schweren Regentropfen drücken die völlig durchnässten Fahnen komplett nach unten. Es riecht nach feuchter Erde und nassem Gras. Auf meiner Haut fühle ich trotz der schützenden Regenkleidung die kalten Regentropfen, und mir wird kalt.
Der trübe graue - mit Wolken behangene - Himmel weicht Stück für Stück dem Dunkel der Nacht. Licht und verheißungsvolle Gemütlichkeit dringen aus den Fenstern des Zentrums.
Ich laufe über den kleinen Innenhof und weiche dabei den tiefen und nassen Pfützen aus. Die Türklinke drücke ich hinunter. Die schwere Außentür reiße ich auf. Wärme schlägt mir entgegen.
Ich drücke den klobigen Türvorhang zu Seite und trete ein. Eine angenehme Atmosphäre lässt die unbeständige Witterung draußen langsam vergessen.
Meine durchnässte Regenkleidung hänge ich rechts an die Garderobe. Auch meine Schuhe ziehe ich aus und stelle sie an der Seite ab. Dann betrete ich die Eingangshalle. Der Geruch von Zimt, Kräutern und Früchten liegt in der Luft und verdrängt die Feuchtigkeit in meinen Lungen.
Gegenüber der Eingangstür befindet sich eine Sitzecke mit verschiedenen Sitzmöbeln und einem Tisch. Ich werde freudig von den Anwesenden begrüßt und nehme auf dem weichen Sofa Platz.
Tee und Kekse werden mir angeboten, was ich nur all zu gerne annehme. Der würzige und gut gesüßte Chai-Tee vertreibt auch die letzte Feuchtigkeit und wärmt gut durch.
Das ich noch nie im Shambhala-Zentrum gewesen bin, fällt sofort auf. Wer ich denn sei, werde ich gefragt. Ich stelle mich vor und bekenne mich zu meiner Neugier. Ich werde auch gefragt, welcher Religion ich angehöre, drücke mich aber vor der Antwort. Ausweichend gebe ich zu, Agnostiker und auf der Suche zu sein, aber mich noch für keine Richtung entschieden zu haben.
Da bin ich anscheinend in bester Gesellschaft. Die Gäste im Zentrum sind bunt gemischt. Christen sind anwesend und Core-Schamanen, aber auch initiierte Buddhisten. Jeder von ihnen ist auf der Suche nach individueller Spiritualität.
Neuzugänge bekommen bei ihrem ersten Besuch erst einmal eine separate Meditationsanleitung. Ein Meditationsleiter – im Marburger Zentrum auch "Umze" genannt – führt mich in einen kleinen Meditationsraum, der sich hinter der Küche befindet.
Die grundlegende Praxis des Buddhismus wird auch im Shambhala praktiziert. Hauptsächlich besteht sie aus Meditation und kontemplativen Techniken. Bei dieser Lehre geht es weniger um die Vermittlung eines Systems an die Meditierenden, sondern vielmehr um eine Unterstützung der eigenen Suche. Motiviert wrden die Teilnehmenden dabei durch biografische Schlüsselerlebnisse.
Meditieren bedeutet, eine nach Innen horchende - in Gedanken versunkene - Betrachtung auszuüben. In der Shambhala-Tradition ist Meditation einfach eine Übung, mit der Achtsamkeit und gewahr Sein geschult werden, um herauszufinden, wer und was der Mensch ist. Letztlich sind Achtsamkeit und gewahr Sein Werkzeuge, durch die man sich selbst finden kann und die das Leben in der Gesellschaft erleichtern.
Kontemplation wiederum bedeutet allgemein Beschaulichkeit oder auch beschauliche Betrachtung. In der Regel wird durch ein kontemplatives Leben oder Handeln ein besonderer Empfindungszustand oder eine Bewusstseinserweiterung angestrebt. Eine kontemplative Haltung ist von Ruhe und sanfter Aufmerksamkeit auf einen Gedanken bestimmt. Von der Meditation unterscheidet sie sich durch die dort angestrebte vollkommene Leere des Geistes.
Meditiert wird auf kubischen Sitzkissen. Als erstes wird ein Schneidersitz eingenommen, bei dem beide Füße unter den gegenüberliegenden Oberschenkeln liegen. Der Kopf muss gerade aufgerichtet sein, als sei er durch einen Faden mit dem Himmel verbunden. Die Augen sollen auf den Boden sehen, aber ihn nicht fixieren. Wer mag, darf sie auch die ganze Zeit geschlossen halten. Der Rücken muss möglichst gerade sein. Die Hände ruhen auf den Knien.
Als nächstes muss der Meditierende seinen Kopf leeren und alle Gedanken in Schubladen verbannen. Die gesamte Konzentration gilt dem eigenen Atmen. Der Meditierende soll nachdenken vermeiden.
Nach der Meditationsanleitung suche ich den großen Altarraum auf und treffe auf die anderen Besucher. In der Zwischenzeit haben sie selbständig meditiert. Ich laufe an den "Thangkas" vorbei.
Mythen, Bodhisattvas und Schutzgottheiten werden auf diesen bunten Rollbildern dargestellt. Der Ablauf der Meditation ist streng ritualisiert.
Vor der eigentlichen Meditation muss der leitende Umze einige Vorbereitungen treffen. Er tritt an den Altar heran und verbeugt sich mit gefalteten Händen. Das dient hauptsächlich der Wertschätzung der Atmosphäre. Gleichzeitig ist es auch eine Ehrerbietung gegenüber Buddha.
Zwei Kerzen werden angezündet. Dabei handelt es sich um Lichtopfer für Gründer und Leiter der Shambhala-Lehre. Sie sind im Geiste anwesend.
Der Umze schlägt die Klangschale zweimal. Dann setzt er sich auf seinen Platz mit Blick zur gesamten Gruppe. Sie darf sich erst dann hinsetzen, wenn der Umze auch sitzt. Anschließend beginnt die Meditation. Der Umze schlägt gegen eine Klangschale. Eine Zeit des inneren Sammelns beginnt. Für 5 Minuten darf keiner den Raum betreten.
Wer - wie ich - zu spät kommt, darf erst hinterher zur Gruppe hinzustoßen. Exakt 20 Minuten nach dem ersten Gongschlag wird ein weiteres Mal gegen die Klangschale geschlagen.
Nun beginnt die Gehmeditation. Für mich kommt das Gehen im richtigen Moment. Längst schon leide ich an Wadenkrämpfen und rutsche auf dem Kissen unruhig hin und her. Mein Rücken schmerzt und meine Gedanken überschlagen sich.
Alle Personen stehen auf. Im Uhrzeigersinn laufen sie durch den Raum. Dieses aufmerksame Gehen soll den Geist leeren und die Gedanken verbannen. Auch hier muss eine bestimmte Haltung eingenommen werden. Rücken und Kopf sind gerade. Der Blick schaut ins Leere. Die linke Hand wird geballt und mit der rechten Hand umschlossen. Die Daumen liegen parallel nebeneinander.
Nach 20 bis 25 Minuten schlägt der Umze zwei Klangstäbe gegeneinander. Er wartet darauf, dass alle Personen an ihren Sitzplätzen stehen. Sie dürfen sich erst hinsetzen, wenn es der Umze auch macht.
Wieder vergehen 20 Minuten. Die Meditation endet mit einem weiteren Gongschlag.
Im Anschluss folgt eine schnelle und einsilbige Rezitation von Chants. Sie sind eine Mantra-Form, bei der es darum geht, sich wichtige Texte oder Themen zu vergegenwärtigen und sich Geistiges in Erinnerung zu rufen.
Nach der regulären Meditation gehen einige Besucher nach Hause. Andere bleiben und bereiten alles für die kontemplative Disziplin des "Kyudo" vor.
Kyudo ist zwar eine alte japanische Kampfkunst, wird wegen all ihrer zeremoniellen Anteile aber eher von Europäern gewählt. Eigentlich ist das Kyudo eher eine Technik aus dem Zen-Buddhismus, woran besonders die verbalen Anweisungen auf japanisch oder die japanischen Schriftzeichen auf Bildern erinnern.
Allerdings soll der Shambhala-Leiter mit einem Zen-Buddhisten befreundet sein. Daher ist diese besondere Art des Bogenschießens hier eine nette Ergänzung.
Die gleitende, sanfte Bewegung – das Eins Werden von Bogen und Ziel – ist das zentrale Element. Diese Art des Bogenschießens ist kein Wettbewerb im sportlichen Sinne. Wenn man sieht, dass jemand sich an bestimmten Stellen verbessern könnte, dann unterstützt man ihn dabei. Jeder hilft jedem.
Bei meinem ersten Besuch darf ich allerdings nur zusehen. Die Übung ist streng ritualisiert.
Im hinteren Teil des Raumes wird zu diesem Zweck extra ein kleiner - Altar ähnlicher - Holztisch aufgestellt, auf dem Räucherstäbchen verbrannt werden. Davor lehnt ein Bild mit einer Kaligrafie.
"Shiko“ steht dort auf japanisch. Das bedeutet "Purpurtiger“ und stellt den Namen der Gruppe dar.
Die Vorbereitung ähnelt den üblichen Handlungen; allerdings wird die Klangschale durch japanische Befehle ersetzt. Die Schützen verbeugen sich zum Altar. Sie meditieren dann ungefähr 20 Minuten, ehe sie ihre Bögen auswickeln und zu den Zielscheiben gehen.
Vor jedem Anlegen wird eine Abstandsmessung vorgenommen. Zwischen Ziel und Schütze liegen 3 Meter. Das entspricht der Länge des Bogens.
Anschließend wird immer wieder auf die Zielscheibe geschossen, wobei jede einzelne Bewegung langsam und mit Bedacht ausgeführt wird. Die anmutigen und langsam ausgeführten Bewegungen beeindrucken mich. Nach 90 Minuten ist schließlich alles vorbei. Die Besucher gehen nach Hause.
Auch ich mache mich auf den Heimweg und trete in die kühle Nacht hinaus. Es hat aufgehört, zu regnen.
An diesem Abend habe ich viel über die praktische Seite des Buddhismus gelernt. Woran ich teilnehmen durfte und was ich beobachten konnte, das lehrt keine Publikation.
Im Shambhala-Zentrum werde ich nicht zum letzten Mal gewesen sein. Mit ein wenig Übung wird auch das Meditieren nicht mehr so anstrengend sein.
Martin Ludwig
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