29.03.2012 (jnl)
50 Norwegen- und Literaturfreunde waren am Mittwoch (28. März) in den Historischen Saal des Rathauses gekommen, um John Burnsides Lesung aus seinem aktuellen Roman "In hellen Sommernächten" mitzuerleben. Schauplatz des Buchs ist die sommerliche Insel Kvaløya im Nordpolargebiet.
Das Verschwinden und Ertrinken einiger männlicher Bewohner einer dünnbesiedelten Insel könnte auf einen Kriminalroman hindeuten. Nichts wäre falscher, denn die von Burnside erzählte Geschichte ist nicht im Mindesten an Aufklärung und Polizeikommissaren interessiert.
Die Ich-Erzählerin des Buchs ist eine Heranwachsende, die ihre soziale und landschaftliche Umwelt ausspioniert und sich ungewöhnlicherweise selbst genügt. Geschildert wird eine beiderseitige, weit über das pubertätstypische Maß hinausgehende Distanz zu ihrer alleinerziehenden Mutter, die als erfolgreiche Malerin ganz in ihrem Beruf aufgeht.
Geradezu psychedelisch sind die Stimmungen, in die Möwen, Küste und Polarsommer-Lichtverhältnisse sie versetzen. Außerdem versucht sie, die Erwachsenen zu durchschauen. Dabei stößt sie auf Unheimliches wie auch auf für sie Lächerliches wie die chancenlosen Bewerber um ihre attraktive Mutter.
Die Veranstalter hatten weder Mühen noch Kosten gescheut, um die Lesung Burnsides in Marburg edel auszustatten. Als Moderatorin des Abends war die FAZ-Literaturredakteurin Felicitas von Lovenberg gekommen.
Mit volltönender Stimme führte sie den Schriftsteller ein, interviewte den Autor mit scharfsinnigen Fragen und erläuterte auf Deutsch, was er geantwortet hatte. Entschieden betonte sie, dass er ein hoch spiritueller Mensch sei und bei weitem mehr ein Dichter als ein Romanschreiber.
Herauskam, dass Burnside über Jahre immer wieder einige Wochen auf dieser Insel bei Tromsø gewohnt hatte. Das 2001 begonnene Buch hat er mehrfach komplett neu geschrieben, bis es seinen eigenen Qualitätsmaßstäben genügte. Eine Passage, in der die Titelheldin ihren - ihr zuvor unbekannten - todkranken Vater in Großbritannien aufsucht, gab dann positiv den Ausschlag.
Tatsächlich war es selbst für in der englischen Sprache bewanderte Zuhörer schwierig, dem mit stark schottisch gefärbten Zungenschlag sprechenden 57-jährigen Autor in alle Details zu folgen. Man nahm wahr, dass er ausgeprägt über Humor und Anekdoten verfügte und Marburg schon aus Schilderungen von persönlichen Freunden kannte.
Überaus erfreulich war, dass zur Lesung aus der deutschen Ausgabe seines Buchs mit dem Schauspieler Manfred Fenner ein probater Hörbuch-Sprecher zum Zuge kam. Die beiden Passagen, die er las, waren allein schon in der Intonation ein Hochgenuss.
Von dem Buch gewann man allerdings den Eindruck, dass hier schon ein speziell spirituell interessiertes und vornehmlich weibliches Publikum angesprochen wird. Die Beschreibung der Insel und ihrer Bewohner wird nie sehr handfest. Immer steht das Subjektive und Gefühlige im Vordergrund.
Da ohnehin Frauen mehr Belletristik lesen als Männer, schlug sich das nach dieser Autorenlesung in einem lebhaften Umsatz des Büchertischs und einer langen Schlange von Signier-Freudigen vor dem Schriftsteller nieder.
Jürgen Neitzel
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