18.03.2012 (jnl)
Mit dem sozialkritischen Gegenwartsstück "Der Goldene Drache" brachte das
Hessische Landestheater Marburg eine Art Theater-Krimi. Die Premiere des Erfolgsstücks von Roland Schimmelpfennig am Samstag (17. März) auf der großen Bühne wurde vom Publikum im nicht ganz ausverkauften Haus sehr gut angenommen.
Erzählt wird die Geschichte eines Geschwisterpaares, das aus armen Verhältnissen in China illegal in den Westen eingewandert ist. Die Schwester landete aus Not und Hilflosigkeit in der Prostitution. Der Bruder fand Unterschlupf in dem chinesischen Schnellrestaurant, das dem Stück den Namen gab. Er verblutet im Stück an einer unsachgemäßen Zahn-Entfernung.
Raffiniert an diesem Plot ist, dass es keine Charakterrollen in einem herkömmlichen psychologischen Moral-Drama bietet, sondern die Zuschauer mitnimmt auf eine Entdeckungsreise. Es geht um versteckte Abgründe im Alltag der westlichen Welt.
Die kleine Welt der wunderbar preisgünstigen China-Bistros zum Beispiel birgt manchmal das Elend der Einwanderer ohne legale Ausweispapiere, die sich keine Zahnarztbehandlung leisten können. Eine solche Geschichte ist die erste Erzählebene des Dramas.
Auf einer zweiten Ebene wird der Kontext abgebildet, die Nachbarn und Bewohner des Viertels, die zu den Kunden des Restaurants gehören. In kleinen Szenen werden ihre unerfüllten Wünsche und Konflikte gezeigt.
Auf der dritten Ebene wird die Logik hinter der Misshandlung von Hilflosen beleuchtet. Ausgehend von der ins Stück szenisch integrierten bekannten Fabel "Die Grille und die Ameise" wird die Erzwingung der Prostitution aus Not mehr angedeutet als gezeigt.
Dem Zuschauer wird einiges Mitdenken abverlangt. Als Beobachter sind die sich nach und nach zeigenden Indizien wahrzunehmen und einzuordnen. Im Grunde ist es ähnlich wie in einem Krimi oder Bert Brecht-Drama.
Das Bühnenbild von Andrea Eisensee setzte die Anlage des Stücks adäquat um. Die fünf Mitarbeiter des Schnellrestaurants agierten in einer Kabine im Bühnenzentrum hinter einer halbtransparenten Glaswand. Die kleinen Spielszenen finden davor statt.
Der Regisseur Gerald Gluth-Goldmann gewann dem unpsychologischen Drama schillernde Seiten ab. Er besetzte die Rollen brutaler Männer mit weiblichen Schauspielern.
Vor reichlichem Kunstblut schreckte er keineswegs zurück, denn bei Blutvergießen springen Emotionen an ebenso wie das Denken. Die Geschlechterverhältnisse wurden von ihm grell als für die Frauen nachteilig ausgeleuchtet. Ein Großvater zitterte vor Geilheit und Neid auf die Jugend.
Die Schauspieler kamen durchweg gut mit dem ungewöhnlich strukturierten Stück klar. Sie mussten im Laufe des Geschehens immer wieder als Off-Erzähler auf der Bühne stehend die Geschichte weitertreiben.
Erstaunlich wie gut Sven Mattke und Martin Maecker weibliche Rollenklischees auf die Bühne brachten. Uta Eisold hingegen verfügte als Mythen-"Ameise" und Lebensmittelhändler zwar über Resolutheit aber keineswegs männliche Ausstrahlung.
Tobias M. Walther gelang es, aus seinen kleinen Spielszenen richtig viel zu machen. Die Gastdarstellerin Ronja Losert war als "Der Kleine mit den Zahnschmerzen" wie auch als Macho umwerfend bühnenpräsent und empfahl sich damit für weitere Rollen beim Landestheater.
Mit dem "Goldenen Drachen" hat das Landestheater ein wunderbares Stück für Gesellschaftskritiker und Schulklassen in den Spielplan genommen. Wer ein Faible für Krimis verspürt, wird tief eintauchen in die Felder heutiger globaler Ökonomie, utilitaristischer Ethik und Menschenbilder.
Jürgen Neitzel
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