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Abenteuer Nähe


Intensive Suche nach dem stimmigen Bild

03.03.2012 (jnl)
"Unsere Erotik entsteht aus der Dauer des Blicks", sagt Agnès Godard. Die französische Kamerafrau erhielt am Freitag (2. März) den Marburger Kamerapreis 2012. Gemeint hat sie damit indes nicht einen inszenierten oder abschätzig vulgären Blick.
Zu den 14. Marburger Kameragesprächenkamen am Samstag (3. März) im Filmkunsttheater "Kammer" am Steinweg wieder rund 120 Fachkundige, Studierende und Interessierte zusammen. Mit fachkundig besetztem Podium samt Preisträgerin wurde jeweils nach Vorführung dreier exemplarischer Spielfilme über das Besondere der Bildgestaltung darin geforscht.
Der erste Film "Beau Travail" (deutsch: Schöne Arbeit") zeigte einen 15-köpfigen Außenposten der französischen Fremdenlegion im ostafrikanischen Djibouti. Auf die Spielhandlung - eine Neidgeschichte mit heiklem Ausgang - kam es weniger an.
Über 90 Minuten lang wurden alle erdenklichen Facetten des Legionärslebens ausgelotet. Das ging von der Härte des Trainings und der Disziplin bis hin zum Bügeln für die makellose Ausgangsuniform und das Tanzen Gehen.
Die Großartigkeit der Bildgestaltung brachte Godard für diesen außergewöhnlichen Film vier Preise ein, darunter den französischen Film-Nationalpreis "César" 2001. Wie sich im Film-Talk mit ihr herausstellte, hatte das Filmteam dafür ein äußerst knappes Budget und nur fünf Wochen Drehzeit gehabt.
Das Jury-Mitglied Sabine Horst - Filmkritikerin und Redakteurin bei EPD-Film - lobte an Godard, dass sie allen stilistischen Moden wie zum Beispiel dem Jalousien-Element stets widerstanden habe. Die Taz-Filmjournalistin und Universitätsdozentin Christina Nord stellte heraus, dass "eine frappierende Körperlichkeit" aus diesen Aufnahmen spreche.
Wichtigstes Ergebnis der ersten Gesprächsrunde war, dass die intuitive Suche nach starken Bildern diesen Film auszeichnen. Die Länge der Einstellungen erlaube einen zweiten Blick, bei dem der Zuschauer insgesamt "mehr" entdeckt. Landschaften wie die Menschen werden ausgedehnte Erlebnisräume.
Bereits am Freitagabend war in der Alten Aula der Philipps-Universität die Preisverleihung zelebriert worden. Man hörte viele gute Reden.
Sehr persönlich und gelungen war die Laudatio von Ursula Meier. Mit dieser französisch-schweizerischen Regisseurin hatte Godard erfolgreich zusammengearbeitet.
Die zweite Runde der Kameragespräche am Samstagvormittag galt ihrem gemeinsamen Spielfilm "Home" aus dem Jahr 2007. In 97 Minuten geht es darin eliptisch um zwei Kernthemen. Er behandelt ein glückliches Familienleben und das, was das Umweltgift "Lärm" daraus machen kann.
Prof. Rolf Coulange aus Stuttgart stellte heraus, er sehe in "Robert Bresson" einen Schlüssel zu Godards Werk. Dieser Film sei vor allem auch eine Studie über den großartigen Umgang mit dem Licht.
Die Kamerafrau-Kollegin Judith Kaufmann lobte die Erzielung von "so viel Intensität wie möglich für jede Einstellung". Sie hat beobachtet, dass die improvisierende Arbeitsweise Godards, dieses "Drehen ohne tot zu proben" vieles erst ermögliche.
Godard gab sehr konzentriert und klar Auskunft über ihre Arbeit. Die Musik etwa sei für sie ein wichtiges Hilfsmittel, um zu rhythmisieren und sich über das Technische ihres Berufs zu erheben.
Neben der Einfühlung in die Räume, die Filmstory und die Menschen darin fühle sie sich manchmal beim Filmen wie in einer eigenen musikalischen Komposition. Es helfe dabei, sich nicht effekthascherisch in unzähligen Details zu verlieren.
Nichtsdestotrotz habe es bei "Home" ein sehr detailliert ausgearbeitetes Drehbuch gegeben. Den Drehort habe man in Bulgarien aus dem Nichts aufgebaut: das Haus, die Autobahn, alles. Für die täuschend real wirkenden Autobahn-Verkehrsszenen habe man eine hinreichende Anzahl Autos im weiten Kreisverkehr immer wieder vorbeisausen lassen.
Der mit drei Filmpreisen ausgezeichnete Spielfilm ist äußerst unterhaltsam und allerbester Stoff für den Unterricht in Schulen. An der Kinokasse erwies er sich allerdings nicht als Kassenfüller.
Die dritte und letzte Runde ging um den Cinemascope-Film "Golden Door", der die Massen-Auswanderung armer Italiener in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) um 1900 zum Thema hat. Der 118-minütige Spielfilm aus dem Jahr 2006 war ebenfalls ein Flop an den Kinokassen, ist indes ein toller Schul-Film über historische Auswanderung.
Im Werkstattgespräch brachte die Münchner Professorin Stefanie Diekmann das Zitat vom "Film als das intensive Betrachten von Dingen, die im Begriff sind, zu verschwinden". An mehreren kurzen Filmsequenzen zeigte sie, wie kunstvoll die Kameraarbeit die Geschichte lebendig werden ließ.
Ihre Münchner Juniorprofessor-Kollegin Fabienne Liptay, die auch Jury-Mitglied ist, fragte etwas über Stil und Ästhetik. Und wiedereinmal sagte die Preisträgerin als Filmpraktiker, dass sie beim Drehen wohl immer an den entstehenden Film gedacht habe, aber nie in theoretischen Kategorien wie "Stil".
Eine beeindruckende Szene mit Tohuwabohu im Laderaum, als das Schiff auf hoher See in ein Unwetter gerät, wurde genauer erklärt. Ein Choreograph war hinzugezogen worden, um mit den hunderten Komparsen in historischen Kostümen eindrucksvolle Bilder zu erzeugen.
Ausgangspunkt für die Bilder des Films waren übrigens vielfach historische Fotografien. Das daraus ein so spannender Film wurde, ist dem Gespür Godards zu danken.
Die spektakulärste Szene im Film, die die Protagonisten - in Milch schwimmend - zeigt, ist übrigens eine Idee des Regisseurs, die er erst Wochen nach Drehschluss fand und als neue Schlusssequenz nachdrehen ließ. Die Anspielung auf das erträumte "gelobte Land" mit "Baden in Milch und Honig" wurde ganz prosaisch in einem Schwimmbad mit Milchpulver umgesetzt.
Ganz wie der Dekan der Marburger Medienwissenschaft - Prof. Dr. Joachim Hergen - in der Begrüßung gesagt hatte, zeigte sich die Tagung erneut als Beispiel gelungenen Transfers zwischen Theorie und Praxis. Großen Anteil am Gelingen hatte unter anderem das Beiratsmitglied Hubert Hetsch. Der gastgebende Kinobetreiber hatte wieder keine Mühen gescheut, um technisch bestmögliche 35-Millimeter-Kopien extra aus Wien zu holen.
Als Glücksgriff der Organisatoren um Prof. Dr. Malte Hagener erwies sich die Übersetzerin Caroline Elias, die der französischsprachigen Preisträgerin perfekt synchron die Sprachbrücke baute. Die gebürtige Marburgerin, die jetzt in Berlin lebt und arbeitet, besitzt eine großartige Stimme und Sprachkompetenz.
Abschließend muss als große Besonderheit und Qualität dieser 14. Marburger Kameragespräche benannt werden, dass die Besetzung der Podien vornehmlich mit Frauen atmosphärisch als sehr angenehm und gelungen in Erinnerung bleibt. Anders als die Männer in den Vorjahren gaben sie nicht der Versuchung nach, ihre rhetorisch ausformulierten Texte lang vorzulesen. Kooperation und Einfühlung statt Eitelkeit standen im Vordergrund. Das war unbedingt zukunftsweisend!
Jürgen Neitzel
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