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Unterdrücker


Vortrag über prekäre Arbeitsverhältnisse

06.02.2012 (fjh)
"Wenn ich vorher gewusst hätte, was ich mir da einhandele, dann hätte ich das wahrscheinlich nicht gemacht", sagte eine engagierte Streiterin für Arbeitnehmerrechte. Gerade für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist der Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen oft ausgesprochen problematisch.
Unter dem Titel "Prekär beschäftigt? – verrückt kämpfen!" sprach Prof. Dr. Ingrid Artus von der Universität Nürnberg-Erlangen am Montag (6. Februar) im Orient-Zentrum über die Schwirigkeiten von Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Eingeladen worden war sie von der studentischen Arbeitsgemeinschaft gewerkschaftliche Fragen (AgF) und vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
In einer Studie hatte Artus Betriebe in Branchen untersucht, die Beschäftigte oft schlecht bezahlen und behandeln. Als Beispiele nannte sie den Einzelhandel, Call-Center, Logistik und Gastronomie.
In ihrer Untersuchung hatte die Wissenschaftlerin die Verhältnisse bei solchen Betrieben in Frankreich mit denen in Deutschland verglichen. Selbst bei dem selben Konzern seien die Verhältnisse in Frankreich deutlich besser als bei den deutschen Filialen, berichtete sie. Als Drund für diesen Unterschied gab sie die gesetztlichen Regelungen in Frankreich an, die Mindestlöhne und menschliche Arbeitsbedingungen klar festlegen, wohingegen diese Regelungen in Deutschland weitgehend den Tarifpartnern überlassen bleiben.
Alle Dämme gebrochen seien in Deutschland mit den sogenannten "Hartz-Gesetzen" zu Zeiten der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Seither habe sich der Niedrig-Lohn-Bereich rasant ausgeweitet.
Bereits jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeite für einen Lohn unterhalb der Grenze von 8 Euro pro Stunde, berichtete Artus. Meist handele es sich bei diesen Menschen um Personen, die anderswo aufgrund persönlicher Voraussetzungen kaum eine Chance bekämen.
Ein Grund für die Aufnahme derartiger Billig-Jobs könnten Kinder sein, die eine Frau allein erzieht und wegen denen ihre räumliche Mobilität und ihre zeitliche Flexibilität stark eingeschränkt ist. Aber auch kranke oder behinderte Menschen, ehemalige Strafgefangene oder psychisch beeinträchtigte Personen seien oft gezwungen, untr prekären Bedingungen zu arbeiten.
Diese Zwänge erzeugten ein besonders starkes Ungleichgewicht zwischen den Beschäftigten einerseits und der Firmenleitung andererseits. Hinzu komme eine große Vielfalt unterschiedlicher sozialer Hintergründe der Beschäftigten in einem einzelnen Betrieb sowie eine starke Fluktuation.
All das erschwere ein Engagement für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen erheblich. Erhebe dennoch einmal jemand die Stimme, so reagierten die Unternehmensleitungen meist sehr drastisch.
Mitunter schrecke das Management dann selbst vor dem Unterschieben von Gegenständen und anschließenden Diebstahlsklagen nicht zurück, wenn jemand sich im Betrieb als "Aufrührer" unbeliebt gemacht habe. Neben dem Hinausmobben oder Kündigungen gebe es mitunter aber auch die Strategie, engagierte Mitarbeiter mit hohen Abfindungen zur Aufgabe ihres Arbeitsplatzes zu bewegen.
"Wer den Kopf hebt, muss mit allem rechnen", sagte Artus. Dennoch gebe es durchaus Leute, die sich für die Gründung eines Betriebsrats oder für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen.
Ein Beispiel dafür sei die Kasiererin "Emmely" aus Berlin. Eine breite Unterstützerkampagne habe ihrem Fall bundesweite Bekanntheit verschafft. Der Supermarktkonzern "Kaisers" hatte ihr wegen eines angeblichen Diebstahls im Bagatellbereich fristlos gekündigt.
Dagegen hatte die Frau erfolgreich gekämpft. Nun sei sie Vorbild für manche andere, die Ähnliches versuchen.
Häufig seien die engagierten Mitarbeiter Frauen über 40, die bereits viele Probleme in ihrem Leben gelöst haben. "Die schrecken dann vor nichts mehr zurück", resümierte Artus.
Aber auch Beschäftigte in unteren oder mittleren Führungsfunktionen setzten sich öfter für bessere Arbeitsbedingungen ein als andere. "Sie kennen den Laden schon gut genug, um erfolgreich sein zu können", begründete die Referentin ihre Beobachtung.
Oft habe eine Anordnung der Geschäftsleitung den Protest ausgelöst, die die Beschäftigten als besonders entwürdigend empfunden haben. Als Beispiel berichtete Artus von einem Fall, bei dem eine Mitarbeiterin ein Regal mit einer Zahnbürste vom Staub habe reinigen sollen.
Gelegentlich trete die Belegschaft auch in Streik oder protestiere, weil ein engagierter Kollege abgestraft wurde, den alle respektierten. Träger von Protesten könnten aber auch Personen sein, die nur vorübergehend im Betrieb beschäftigt werden und deshalb nichts zu verlieren haben.
Doch selbst wenn die Gründung eines Betriebsrats gelinge, müsse sich die Belegschaft auf langanhaltende Zermürbungsstrategien der Geschäftsleitung einstellen. Zudem wurden Beschäftigte unter vier Augen vor einem Kontakt mit "aufrüherischen Elementen" gewarnt, die dem Betrieb angeblich schadeten.
An eine sehr plastische Aufzählung von Fällen schloss sich eine lebhafte Diskussion an. Dabei verwiesen Studierende auch auf die finanzielle Lage der wissenschaftlichen Hilfskräfte an der Philipps-Universität, die sie mit Hilfe einer eigens gegründeten Initiative verbessern wollen. Zudem formiere sich nun auch Widerstand bei den Reinigungskräften, nachdem die Universitätsleitung in diesem Bereich deutliche Einsparmaßnahmen durchgesetzt habe.
Auch Leiharbeit, Outsourcing und Werk- oder Honorarverträge wurden als Beispiele für eine Prekarisierung von Beschäftigten angeführt. Ein weiteres Problem stelle schließlich auch das Unverständnis mancher Gewerkschaftsfunktionäre gegenüber solchen Verhältnissen dar, weil sie in traditionellem Denken verhaftet seien, das oft allein auf Betriebsratsarbeit ausgerichtet sei.

Am Schluss stand ein großes Interesse vieler Anwesender an weiteren Diskussionen mit der Referentin. Die - überwiegend jüngeren - Veranstaltungsbesucher zeigten dabei sehr plastisch, dass inzwischen wieder eine soziale Bewegung für Soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit zu fairen Bedingungen gibt.
Franz-Josef Hanke
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