22.01.2012 (jnl)
Alles Bangen vor dem Machwerk einer "berühmten Suchmaschine" war vergeblich. Die Inszenierung des Klassikers "Antigone" nach Sophohkles durch André Rößler am Samstag (21. Januar) auf der Bühne des Theaters am Schwanhof war eine tolle Neuinterpretation. Selbst die durch Google-Übersetzungen stark verfremdete, gewöhnungsbedürftige Sprache änderte daran nichts. Schließlich blieben die Beziehungen und Handlungen der Rollen gerade auch in ihren Konflikten miteinander leicht nachvollziehbar.
Die Söhne des Herrschers von Theben haben sich als Konkurrenten um die Thronfolge gegenseitig umgebracht. König wird Kreon, der um des Exempels willen verfügt, dass nur einer der beiden Verblichenen ein Begräbnis in Ehren bekommen soll. Der Andere soll als Leichnam den wilden Tieren als Fraß überlassen bleiben - als warnendes Beispiel.
Die Titelfigur Antigone ist die Schwester der beiden Toten. Sie besteht darauf, mit eigener Hand auch den verfemten Bruder zu beerdigen. Dafür nimmt sie freiwillig die Verhängung der Todesstrafe wegen Ungehorsams hin. Und so geschieht es. Mehrere Suizide folgen diesem Lauf der Tragödie.
Regisseur Rössler übertrug das 2450 Jahre alte Drama gestalterisch in ein zumindest den jungen Deutschen des 21. Jahrhunderts vertrautes Setting. An sechs Stellen im Ablauf des Dramas werden die Zuschauer zu Abstimmenden, wie die Handlung weitergehen soll. Das ist ein Computerspiel-Design.
Der Krieg zwischen den beiden Ödipus-Söhnen wird nicht abstrakt vorausgesetzt sondern bildkräftig dargestellt. Die Thron-Konkurrenten gehen mit farbgetränkten Schwämmen aufeinander los. Die rötliche Farbe steht für Kampf bis aufs Blut.
Der Bühnenraum wird aufgebrochen. Der um seine versprochene Braut Antigone betrogene Kreon-Sohn Haimon in Verzweiflung darüber nur noch "F1, F1" um "Hilfe" rufend, öffnet die Notausgangstüren des Theaters weit und stürmt nach draußen.
Die mutigen Regieentscheidungen werden sich zweifellos in einem deutlich erhöhten Interesse der Jüngeren am Theaterbesuch spiegeln. Auch die zweite Regiearbeit von André Rößler nach "Dantons Tod" überzeugt durch Eigenständigkeit, Struktur und schrägen Witz.
Das von der jungen Austatterin Simone Steinhorst entworfene Bühnenbild samt Kostümen kann man ebenfalls gar nicht genug loben. Die weißen Stangen vor nachtschwarzem Hintergrund ergeben einen futuristischen und eindrücklichen Bühnenraum.
Fünf Schauspieler des Ensembles übernahmen acht Rollen im Drama. Allein drei davon füllte der mit einer sehr kraftvollen Stimme ausgestattete Sven Mattke. Sowohl als trauernder Haimon als auch als Seher Teiresias war er sehr eindrucksvoll.
Annette Müller als Ismene, Martin Maecker als König Kreon und Gergana Muskalla als Antigone hatten tragende, starke Auftritte. Doch der in die Rolle des Showmasters des Computerspiel-Theaters schlüpfende Sebastian Muskalla zog deutlich die meiste Aufmerksamkeit des Publikums auf sich.
Mit schnoddrigem Tonfall kommentierte er das Bühnengeschehen und die von ihm erwünschten Abstimmungsergebnisse. Um bestimmte Entscheidungen musste er dabei hart kämpfen, auch darin traf er den Ton.
Dass die von ihm als aktive "Mitspieler" aus dem Publikum gewählten Personen Statisten des Landestheaters waren, spielte kaum eine Rolle. In den Abstimmungen des Publikums kam allerdings deutlich die ausgeprägte Distanz zu dem Mythenkern des Sophokles-Dramas heraus.
Beinah niemand unter den Zeitgenossen und Theatergängern versteht und billigt den Suizid aus religiösen oder familiären Gründen, wie er im Stück mehrfach gezeigt wird. Die Gnadenlosgkeit der "Staatsraison" hat ebenfalls kaum noch ideologische Anhänger im Publikum.
Ist das Drama "Antigone" also nicht im Kern veraltet und kaum noch vermittelbar? Gewiss ermöglicht die mutige Auffrischung durch Bühnenbild und Regieideen vorübergehend neu erwachendes Interesse. Könnte man dasselbe durch eine Interpretation etwa als "Whistleblower"-Drama nicht nachhaltiger gestalten?
Das Publikum der Premiere war von den Qualitäten der Rössler-Inszenierung fast einhellig begeistert und gab dem Team der Schauspieler und Macher mehrere "Vorhänge" und donnernden Applaus. Bereits am nächsten Donnerstag steht das Stück erneut auf dem Spielplan.
Jürgen Neitzel
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