21.12.2011 (fjh)
Plötzlich konnte Klara Klein (Name geändert) ihr Bein nicht mehr bewegen. Sorgenvoll begab sie sich zu ihrem Hausarzt, der sie an die Notaufnahme Orthopädie des Universitätsklinikums überwies. Dort begann eine Odyssee, die letztlich ohne Behandlung endete.
Wer beim Haupteingang des
Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) auf den Lahnbergen ankommt, der fühlt sich eher an einen Flughafen erinnert als an ein Krankenhaus. Lange - oft verwinkelte - Gänge und zahlreiche Aufzüge erschweren selbst findigen Zeitgenossen die Suche nach dem richtigen Raum, wo sie sich medizinische Hilfe erhoffen.
Bereits Mitte der 80er Jahre war der gigantische Bau auf den Lahnbergen Gegenstand eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags. Bei den Planungen waren schwerwiegende Fehler gemacht worden, die sich hinterher nur mit erheblichem Aufwand beheben ließen.
Dennoch wurde das Klinikum weiter ausgebaut. Nach und nach wurden die verschiedenen Universitätskliniken von der Innenstadt auf die Lahnberge verlegt.
Im Jahr 2005 wurden die Universitätskliniken von Marburg und Gießen zusammengelegt. Die fusionierten Kliniken verkaufte das Land Hessen 2006 an die private Rhön-Klinikum AG.
Seither gibt es zahlreiche Beschwerden. Die Privatisierung war sogar Gegenstand eines Verfassungsgerichtsverfahrens, das mit der Feststellung eines verfassungswidrigen Vorgehens bei der Überleitung des Personals endete.
Doch nicht nur Ärzte und Pflegepersonal leiden unter der Privatisierung. Zu ihren gesundheitlichen Leiden müssen viele Patienten auch Mängel in der medizinischen Versorgung - auch wegen der Zeitnot des Personals - erdulden.
Doch selbst die Wege im Klinikum sind nicht so, wie es in einem Krankenhaus sein sollte. Das musste Klein am Dienstag (20. Dezember) feststellen.
Vom Eingang aus begab sie sich zunächst zur Notaufnahme. Dort wurde sie weiterverwiesen an die Orthopädische Klinik.
Hier wurde ihr mitgeteilt, sie müsse sich zunächst ein Stockwerk höher begeben, um einen Termin zu erhalten. Trotz starker Schmerzen ihres Beins unternahm die Patientin auch diese weitere Wanderung durch die verwinkelten Gänge des Klinikums.
Nachdem sie den Termin für die Notaufnahme erhalten hatte, machte die Patientin sich wieder auf den Rückweg. Als sie aber die Stelle nicht mehr wiederfand, die sie zuvor abgewiesen hatte, gab sie ihr Vorhaben entnervt auf. Am Ende ihrer Kräfte angelangt, beschloss sie, "nie wieder in dieses Klinikum" zu gehen.
Aus Sicht der Klinikleitung stellt sich diese Geschichte vollkommen harmlos dar. "Unsere Recherche ergab, dass sie nicht in die Zentrale Notaufnahme, sondern in die orthopädische Poliklinik gegangen war", erklärte Klinik-Pressesprecher Frank Steibli auf Anfrage. "Da dort bereits viele andere Patienten zur Aufnahme warteten, wurde sie von der Anmeldung der Orthopädie gebeten, sich eine Etage höher (Ebene 0) über die Zentrale Anmeldung anzumelden. Durch diesen Schritt sollte ihre Wartezeit verkürzt werden. Weil die Patientin Schmerzen angab, wurde sie vorher jedoch von einer Mitarbeiterin aus der Orthopädie gesehen, die allerdings keine sehr starke Beeinträchtigung feststellen konnte, zumal die Patientin auch einen schweren Rucksack mit Literatur mit sich trug."
In Erwartung einer längeren Wartezeit hatte Klein Proviant und Lesestoff eingepackt. Für die Patientin, die aufgrund einer Stoffwecselstörung Unterzuckerungszustände fürchten muss, gehört der Rucksack zur ständigen Ausstattung.
All das konnte das Personal des Klinikums nicht wissen. Doch schien es auch niemanden dort zu kümmern.
Jedenfalls rechtfertigt die Klinikleitung das abwiegelnde Verhalten der Beschäftigten mit einer Verniedlichung: "Da der Weg zur zentralen Anmeldung nur sehr kurz ist - sie liegt eine Etage höher - war ein Weiterschicken aus Sicht der Mitarbeiterin gut vertretbar und in bester Absicht, die Behandlung der Dame zu beschleunigen."
Beschleunigt hat diese Abweisung den Vorgang allerdings nur für das Personal des Krankenhauses: Seine Arbeit wurde dadurch um eine weitere Behandlung verkürzt.
Das drückt Steiblis Stellungnahme allerdings eher technisch aus: "Danach tauchte die Patientin jedoch nicht mehr in der orthopädischen Poliklinik auf und war auch im Orbis-System des Klinikums nicht sichtbar, so dass Sie sich nach unseren Recherchen auch nicht über die Zentrale Anmeldung angemeldet hat." Die Klinik könne "aufgrund der vorliegenden Angaben nicht nachvollziehen, über welchen Eingang die Dame in unser Haus kam und mit wem sie auf dem Weg zur Poliklinik Kontakt aufgenommen hatte".
Alle drei Eingänge zum Klinikum seien "mit Rezeptionen ausgestattet. Die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen gerne bei der Orientierung, unter anderem, indem sie Wegweiser aushändigen", erklärte die Klinikleitung.
Dennoch könne es "in einem solch großen Klinikum auch Situationen geben, in denen man als Patient/in zwecks Orientierung nachfragen muss. Wir versuchen, unsere Beschilderung so gut und übersichtlich wie möglich zu gestalten und sie ständig zu optimieren", versprach Steibli. "Wir nehmen diesen Fall auf jeden Fall zum Anlass, die Wege und die Beschilderung im Haus erneut zu überprüfen und zu verbessern."
Nicht berücksichtigt bleibt bei diesen Ausführungen indes die Tatsache, dass Patienten sich bei einem Aufenthalt im Krankenhaus häufig in einem Ausnahmezustand befinden. Schmerz und Sorge können dazu führen, dass die Konzentration auf den Weg nicht in gleichem Maße möglich ist wie an gesunden Tagen. Auch gibt es Alte, desorientierte oder behinderte Patienten.
All dem trägt die Klinikleitung nicht ernsthaft Rechnung. Obwohl die Pressestelle auf diese Fragen hingewiesen worden war und ihr mitgeteilt wurde, dass Orientierungsprobleme im Marburger Klinikum häufiger vorkommen, arbeitet sich die Stellungnahme allein an dem vorgetragenen Einzelfall ab.
Offenbar gibt es sehr gute Gründe, dass sich in Marburg die Initiative "Notruf 113" gegründet hat. Der Klinikleitung jedenfalls scheint das menschliche Maß beim Umgang mit Kranken abhanden gekommen zu sein. Sicher an seine Behandlung kommt man anscheinend nur, wenn man im Rettungswagen vorfährt.
Franz-Josef Hanke
Text 6571 groß anzeigenwww.marburgnews.de