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Dinner für 42


Premiere von "Lebenskunst" im Landestheater

11.12.2011 (jnl)
Für außergewöhnliche Stücke sorgt beim Hessischen Landestheater Marburg oft der Chefdramaturg Alexander Leiffheidt. Seine Produktion von "Solange Du lügst" ist noch in bester Erinnerung. Bei der Premiere von Jean-Luc Lagarces Farce "Die Regeln der Lebenskunst in der modernen Gesellschaft" am Samstag (10. Dezember) auf der Studiobühne "Black Box" am Schwanhof führte Leiffheidt selbst Regie.
Wie bei einem großen Dinner werden die 42 Plätze rund um eine riesige Tafel nach Platzkarten besetzt. Jeder Gast hat zwei Tischnachbarn des jeweils anderen Geschlechts. Das könnte reizvoll sein, nur ist es kein Dinner sondern Theater.
Unvermittelt ergreift eine - ganz in brautliches Weiß gekleidete - Frau sprachgewaltig das Wort. Bei ihr handelt es sich um das Ensemble-Mitglied Franziska Knetsch, das in atemberaubendem Tempo Leitregeln herauszuposaunen beginnt.
Es ist ein befremdlicher Text. Darin geht es um Geburten aus pragmatischer und juristischer Sicht. In besonderer Berücksichtigung der Möglichkeit einer Totgeburt wird eine fast vollständige Kasuistik dazu geliefert. Nur ab und zu nippt die Sprecherin am Rotwein.
Als Einzige aus der Dinner-Gesellschaft hat man ihr und ihrem Kollegen Jürgen Helmut Keuchel ein gefülltes Glas zugestanden, um beim langen Reden den Gaumen zu befeuchten. Keuchel isst und trinkt 10 Minuten lang seelenruhig, hört zu und schweigt.
Der dritte Darsteller Tobias M. Walter hat die Rolle eines Butlers. Erkennbar ist das an seinen weißen Handschuhen.
Kreisend eilt er um die Dinner-Tafel. Er teilt Platzkärtchen mit Heiligen-Namen aus und mischt sich rege in den Monolog über die "einzig wahren" Leitlinien des gesellschaftlich korrekten Handelns ein.
Der Inhalt der mündlich ausgebreiteten Benimm-Anweisungen wandelt sich über die - streng zu beachtenden - Vorgaben einer schicklichen, standesgemäßen Verheiratung bis schlußendlich zur pietätvollen Beerdigung und Erbfolge-Regelung. Aus dieser Beschreibung ergibt sich zugleich die größte Crux des Stücks.
Anders als der Titel vortäuscht, handelt es sich nicht um Regeln, die im Deutschland oder Frankreich des 21. Jahrhunderts von Belang sind. Vielmehr ist es ein Katalog von Sitten des wohlhabenden, konservativen Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert.
Wozu taugt das heute noch, es sei denn als abschreckendes Beispiel? Sobald man das erkannt hat, konzentriert man die eigene Aufmerksamkeit auf die Körpersprache der Akteure.
Denn hier geschieht unausgesprochen das eigentlich Spannende. Eine enorme Schere tut sich auf zwischen Worten und Taten.
Die Dame fällt mittenmang in hysterische Übersteigerung, der Butler in hektische Sprünge und Pedanterien, das Familienoberhaupt unvermittelt in erschöpften Schlaf. Das Miniatur-Piano auf der Bühne dient wie weiland Schroeder bei den Peanuts als kleine Wirklichkeits-Flucht in die Kunst.
Die drei Schauspieler leisteten Großartiges. Allein das enorme Textkonvolut, das jeder der drei auswendig und intonationssicher abspulte, ist ein sportlicher Triumpf. Auch auf der Ebene der Körpersprache zeigten sie sich als beachtliche komödiantische Begabungen.
Allein das kirre, elektrisierende Gelächter, das Knetsch so unnachahmlich loszulassen weiß, muss man einmal erlebt haben. Sie dominierte die Aufführung.
Kein Wunder war also, dass der Schlussapplaus für die Darsteller ungewöhnlich langanhaltend und herzlich ausfiel. Das Lagarce-Stück hingegen kann man leider nur konservativen Akademikern und hartgesottenen Historikern oder lachlustigen Trash-Fans empfehlen. Alle Anderen wären mit einer - statt 90 nur 30-minütigen - Performance-Fassung bei gleicher Erkenntnis des unvermeidlichen Scheiterns durch starre gesellschaftliche Konventions-Korsette besser bedient.
Jürgen Neitzel
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