17.11.2011 (fjh)
"Ich stamme aus einer Gegend, da regiert der Pietkong." Mit dieser Beschreibung charakterisierte Volker Beck seine konservativ christliche Heimat in Württemberg.
Unter dem - aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entlehnten - Titel "Frei und gleich an Würde und Rechten geboren" sprach der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Deutschen Bundestag am Mittwoch (16. November) im Historischen Saal des Rathauses. Eingeladen hatten den langjährigen Vorkämpfer der Bewegung für die Gleichstellung Homosexueller der
Allgemeine Studierenden-Ausschuss (AStA) und der Verein "Tuntonia".
In ausufernden Vorreden stellten zwei Vertreterinnen des AStA und ein Vertreter von Tuntonia die Vorgeschichte der Einladung Becks nach Marburg dar. Ursprünglich war sie im Umfeld eines evangelikalen Kongresses erfolgt, bei dem Homosexualität als "Sünde" und als "heilbare Krankheit" dargestellt wurde. Nach dem Willen des AStA und der Marburger Schwulen- und Lesbengruppen hätte Beck in der Alten Aula und damit an gleicher Stelle sprechen sollen wie die homophoben Fundamentalisten.
Das hatte die Verwaltung der
Philipps-Universität damals jedoch abgelehnt. Umso erfreuter zeigten sich die Veranstalter und auch Bürgermeister Dr. Franz Kahle, dass Universitätskanzler Dr. Friedhelm Nonne nun der Einladung in den voll besetzten Historischen Saal gefolgt war.
Nach Kahles ausführlichem Grußwort und zwei deutlich disharmonischen Darbietungen am Klavier begann Becks Vortrag mehr als eine Dreiviertelstunde nach dem Beginn der Veranstaltung. Alle, die bis dahin ausgeharrt hatten, wurden dann aber mit einem brillianten Referat belohnt.
Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN) und den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes stellte Beck zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen dar, die die Menschenwürde, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichheit aller Menschen ohne Ansehen der Person verlangen. Das schließe auch die Gleichbehandlung von Menschen mit ein, deren sexuelle Identität nicht der Mehrheit entspricht, erklärte Beck.
Gerade nach den Verbrechen des nationalsozialistischen Gewaltregimes an Juden, Roma und Sinti, Behinderten und Homosexuellen sowie Andersdenkenden hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die bunte Vielfältigkeit aller Menschen und ihre persönliche Entfaltung in den Mittelpunkt des Schutzes durch die Verfassung gerückt. Dieses Ziel sei zwar in vielen Bereichen des Alltags lange noch nicht verwirklicht, müsse aber als Maßstab staatlichen Handelns dienen.
Schon bei der Gleichberechtigung von Frauen und Männern habe der Gesetzgeber nach Kriegsende viel tun müssen, meinte Beck. Vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) musste damals geändert werden, um Frauen aus der patriarchalischen Bevormundung ihrer Ehemänner zu befreien.
Der Behindertenbewegung sei es 1994 gelungen, das Grundgesetz durch einen zusätzlichen Artikel zu erweitern, der die Benachteiligung von Menschen wegen ihrer Behinderung verbietet. Eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes forderte Beck auch für Schwule und Lesben, Transsexuelle und Transgender.
Niemand könne sich seine sexuelle Identität frei aussuchen, stellte Beck klar. Homosexualität als angebliche Krankheit zu bezeichnen, sei wissenschaftlich nicht haltbar. Niemand trete morgens vor den Spiegel, lege Lippenstift auf und überlege, ob er an diesem Tag lieber mit einer Frau oder mit einem Mann anbandeln wolle.
Als Erfolg betrachtet Beck deswegen das - von ihm mit durchgesetzte - Lebenspartnerschaftsgesetz. Auch wenn es anfangs selbst in den Reihen der Schwulen- und Lesbenbewegung Bedenken gegeben habe dagegen, dass die Regelung gerade bei den Pflichten der jeweiligen Partner so weitgehend sein könnten, erweise sich gerade das nunmehr zunehmend als Vorteil. In jüngster Zeit setze das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Rechtsprechung die Beteiligten an Eingetragenen Lebenspartnerschaften gerade wegen der Parallelen zu Ehen mehr und mehr den Ehepartnern gleich.
Eine Verankerung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bezüglich der sexuellen Identität in der Verfassung hält Beck indes trotz vieler Verbesserungen im Alltag für nötig. Auch wenn die weithin akzeptierte Durchführung des Christopher-Street-Days (CSD) in Deutschland angesichts eines zustimmenden Urteils des BVerfG zur Bestrafung von Homosexualität im Jahr 1957 eine deutliche Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas belege, könne man sich nur mit einer eindeutigen Regelung im Grundgesetz gegen einen möglichen Rückfall in homophobe Stimmungen bei der Bevölkerung schützen.
Im Gegensatz zu einem skeptischen Zuschauer befürchtet Beck eine solche Kehre zurück allerdings eher nicht. Dennoch müsse das Grundgesetz allein schon aus Gleichheitsgründen auch die Würde von Schwulen, Lesben und Transgendern ganz ausdrücklich schützen.
Franz-Josef Hanke
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