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So sinnlich wie die Poesie


Jäger-Gogoll sprach über deutsch-jüdische Literatur

04.11.2011 (mal)
"Eure Sprache ist auch meine Sprache!“, zitierte Dr. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll am Mittwoch (2. November) aus dem Gedicht "An die Deutschen“. Es erschien 1947 und wurde von dem deutsch-jüdischen Dichter Karl Joseph Wolfskehl verfasst.
Von Aspekten deutsch-jüdischer Literatur und Literaturgeschichte handelte ihr Vortrag im Rahmen der Reihe "Religion am Mittwoch". Durchgeführt wurde er im Fachbereich Religionswissenschaft der Philipps-Universität. Auch literarische Exponate aus dem Konfuzianismus und Judentum wurden bei der üblichen thematischen Führung durch die Religionskundliche Sammlung gezeigt.
Jäger-Gogoll hat Germanistik, Kunstgeschichte, Spanisch und Portugiesisch in Marburg studiert. Zum Thema "Spanien in Heinrich Heines Werk“ hat sie promoviert. Seit 2008 ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Neuere deutsche Literatur und beim Zentrum für Konfliktforschung (ZfK). Das Judentum in der Literatur stellt ihren derzeitigen Forschungsschwerpunkt dar.
Texte haben eine vielfache materielle Beschaffenheit und Erfahrbarkeit. Sie können gesehen, berührt und verinnerlicht werden. Durch das Lesen und Hören sprechen sie auch eine sehr intellektuelle Seite an.
Jäger-Gogoll ging in ihrem Vortrag nicht nur auf die reichhaltigen Facetten von Ästethik und Sinnlichkeit literarischer Ergüsse ein. Auch die Verarbeitung und Rezeption von Konfliktdynamiken zwischen Juden und Deutschen im Laufe der Historie wurden ausführlich behandelt.
Deutsch-jüdische Literatur begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie blühte rasch auf und wurde ein integraler Bestandteil der deutschen Literatur. Schon in ihren Anfängen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts manifestierte sich jedoch eine sehr latente und aggressive Ausgrenzung in der öffentlichen Diskussion.
Jeglicher Anteil an der deutschen Sprache wurde den Juden immer wieder abgesprochen. Ihnen wurde der Zugriff auf diese Sprache verwehrt. Eine massive Ausgrenzung aus der deutschsprachigen Literaturszene fand statt, weil sie dort - nach Meinung der damaligen Öffentlichkeit - nichts zu suchen hatten.
"Deutsch-jüdische Literatur“ als Begriff sei heute umstritten. Nach dem Massenmord an mehr als einer Million deutscher Juden und 6 Millionen europäischer Juden durch das Dritte Reich stelle sich die Frage der Vereinbarkeit von „deutsch“ und „jüdisch“.
Sehr vielen Kritikern erscheine das als zu blasphemisch. Als eine fatale Art der Diskriminierung werde es allerdings auch empfunden, da Autoren willkürlich herausgesucht und als Juden bloßgestellt werden.
Jüdische Autoren selber sprechen zu lassen und über ihre Hintergrunderfahrung zu reflektieren, sei die hauptsächliche Intention der Befürworter eines solchen Begriffs. Immerhin gehe es in den Texten ja auch immer wieder um Kultur und Identität.
Der Auszug aus Ägypten und die damit verbundene Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei stelle ein grundlegendes Motiv in jüdischen Werken dar. In seinem Werk "Der Rabbi von Bacharach“ gehe der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine in den 1820er Jahren darauf ein. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, das darauf basierende Pessach-Fest ausführlich zu beschreiben und einem deutschen Publikum zum ersten Mal in der gehobenen und anerkannten Literatur zu vermitteln.
Auch die Verarbeitung von rassistischen Vorurteilen und aggressiven Tendenzen gegen Juden hat Heine in seine Geschichte eingebaut. Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Einstellung wurde Heine immer wieder angefeindet und ausgegrenzt. Diese Außenseiterrolle prägte sein Leben, sein Werk und dessen wechselvolle Rezeptionsgeschichte.
Die jüdische Diaspora und Holocaust-Erfahrungen, aber auch die permanenten Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus seien ebenfalls Motive in der - von den Erfahrungen des Judentums geprägten - deutschen Literatur. Heutige Schriftsteller wie Maxim Biller und Robert Schindel verarbeiten diese traumatischen Erlebnisse aus dem kollektiven Gedächtnis der jüdischen Kultur immer wieder in ihren Erzählungen und Essays.
Literatur könne rassistische und antisemitisch begründete Ideologien überwinden. Sie greife Erzählungen sowie Erinnerungen immer wieder auf und aktualisiere sie. Aspekte deutsch-jüdischer Kultur werden so immer wieder einem neuen Publikum zu Gehör gebracht.
In der - an den Vortrag anschließenden - Diskussion waren sich die Gäste einig: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen“, zitierten einige von ihnen Johann Wolfgang von Goethe. "Dulden heißt beleidigen.“
Martin Ludwig
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