21.10.2011 (jnl)
Die Zeit heilt alle Wunder. An dieses Wortspiel aus einem Songtext fühlte man sich erinnert bei dem neuen Stück der Autorin und Regisseurin Graciela Gonzalez de la Fuente über die Schrecken und Taktiken einer Erblindung im Jugendalter.
Die Premiere am Donnerstag (20. Oktober) im
Theater im G-Werk überzeugte durch narrative Verve und gute schauspielerische Leistung. Die von der Regisseurin aus früheren Inszenierungen bekannte Nähe zum lateinamerikanischen "magischen Realismus" und zum Tanztheater kam in einem Nebenstrang zur Geltung.
Die Hauptgeschichte in "So wie das Licht den Tag erfüllt" schildert die Stationen eines Kampfes. Ein Jugendlicher muss damit zurechtkommen , dass ihm durch eine unheilbare Netzhautablösung unweigerlich die allmähliche Erblindung droht.
Mit allen nur ausdenkbaren Mitteln - Alkohol, Arbeitsfülle, Liebesleben, Verdrängung bis hin zu Suizidversuchen - wehrt er sich gegen das "Annehmen" dieser Erkrankung. Erst nach Jahren, als alle diese Fluchtversuche fehlgeschlagen sind, findet er inneren Frieden mit seiner Behinderung.
Der Schauspieler Marco Wittorf brachte die Ich-Erzählung vom extremen Aufbegehren eines "Gezeichneten" glaubwürdig auf die Bühne. Sein Wüten gegen sich selbst und die Welt sowie seine schonungslos bittere Schilderung der erlebten harten Realitäten zeigten auf, was eine Tragödie "von heute" leisten kann.
Um den Furor und das geballte Selbstmitleid der Hauptfigur auszubalancieren, baute González de la Fuente eine feenartige weibliche Nebenfigur ein. Sie steht für das - letztlich immer am Rande des Wegs wartende - Wunder der menschlichen Liebe und Selbstannahme, also die mögliche Lösung.
In dieser stummen Rolle mit Clownsnase verführte die "Fee" den Wüterich zu sanfteren alternativen Wegen, zu Tanz und Liebe. Die Schauspielerin Cathi Matthies verzauberte in einem tollem, rückenfreien schwarzen Traumkleid die Atmosphäre, so dass man vorübergehend aller Schrecken des Selbsthasses aus der Haupthandlung entrückt wurde.
Das sehr eindringliche Bühnenbild, das ebenfalls von der Regisseurin entworfen wurde, zeigte die Wohnung sowie eine "mythische" Parkbank. Das widerspiegelte gelungen die - zu wenigen Fixpunkten geschrumpfte - Lebenswelt eines mit der Außenwelt im inneren Konflikt lebenden Behinderten.
Geradezu charakteristisch für das Theater im G-Werk, übernahmen multimediale Einspielungen eine bemerkenswerte Rolle. Das Tondesign von Robert Fischer und die Video-Einspielungen von Hendrik Scheller weiteten die Perspektive über das unmittelbare Geschehen hinaus.
Das Stück über einen - extrem mit Selbsthass hadernden - Erblindeten ist weniger ein Drama für die Zielgruppe der selbst Betroffenen. Die meisten Blinden in Marburg haben ihr Leben vergleichsweise gut im Griff.
Diese kleine Kammerspiel-Tragödie richtet sich vornehmlich an die "normalen" Sehenden. Sie können sich gewöhnlicherweise kaum vorstellen, welche inneren Schrecken eine solche Erkrankung für die eigene Lebenswelt bringen kann.
Es ist ein schönes Verdienst González de la Fuentes, dass sie am Sitz der
Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) - als der heimlichen Blinden-Hauptstadt Deutschlands - einen solchen Brückenschlag unternommen hat. Das Verständnis für die "fremden" Konflikte gewinnt durch die Überzeichnungen eines extremen Beispiels ungeheuer an Konturen.
Das Theaterstück - obschon für fernsehgeprägte Sehgewohnheiten äußerlich etwas handlungsarm angelegt - ist psychologisch packend und nie langweilig. Nach rund 80 Minuten bedankte sich das Premierenpublikum zu Recht mit lang anhaltendem Applaus.
Jürgen Neitzel
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