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Volles Wirtshaus


Begeisterte Besucher bei Premiere in der Waggonhalle

21.10.2011 (fjh)
Schon eine halbe Stunde vor Beginn war das Foyer der Waggonhalle brechend voll. Auf dem Programm stand die Premiere des Theaterstücks "Das Wirtshaus an der Lahn II" von Willi Schmidt. Sie brachte dem Marburger Kulturzentrum am Donnerstag (20. Oktober) ein - bis auf den letzten Platz - volles Haus ein.
Das Theaterstück spielt im Jahr 1919. Schauplatz ist das legendäre "Wirtshaus an der Lahn", das anlässlich des Baus der Stadtautobahn dem "Affenfelsen" weichen musste. Im Stück wird das Treiben in dem beliebten Wirtshaus um die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder lebendig.
Der Wirt "Papa Lupus" trachtet nach Möglichkeiten, wie er seine Gaststätte in schweren Zeiten über Wasser halten kann. Dabei ist ihm jedes Mittel recht.
Die Hure Vicky und die Sängerin Christine, die eigentlich Hanna heißt, schaffen für ihn an. Die Engelmacherin Paula bedient die Gäste im Schankraum.
Im Saal trifft sich der begüterte Baron mit Gleichgesinnten. Sie trauern dem abgetretenen Kaiser Wilhelm hinterher, schimpfen auf Sozialdemokraten und Juden.
Aber Lupus hat auch keine Skrupel, der Frauenrechtlerin Berta Raum zu gewähren für ihre "aufwieglerischen" Treffen. Ihm ist nur wichtig, dass die Kasse klingelt.
Allein der Sozialist Andreas ist ihm ein Dorn im Auge. Nach einem Überfall rechter Schläger hat Paula ihn bei sich aufgenommen.
Wie ein Puzzle fügt die Inszenierung von Matze Schmidt die einzelnen Steinchen des Bühnengeschehens zu einem Gesamtbild der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg zusammen. Untermalt wird die Handlung von Musik, die ein Trio mit Klavier, Gitarre und Perkussionsinstrumenten live auf der Bühne spielt.
Durch das gesamte Geschehen zieht sich wie ein roter Faden das alte Studentenlied "Es steht ein Wirtshaus an der Lahn". Hinzu kommen Volkslieder, Schlager und Couplets, die mitunter aber erst in den späten 20er Jahren oder gar während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entstanden sind.
Zweimal tritt Lupus vor, um den Text des Studentenlieds zu singen oder - eher noch - zu sprechen. Damit setzt er dramaturgische Akzente, bevor die Handlung einem neuen Höhepunkt entgegenstrebt.
In der Rolle des geldgeilen Wirts glänzte Willi Schmidt durch eine enorme Eindringlichkeit seines Spiels. Seine Figur hatte der Autor als enttäuschten Menschen angelegt, der an nichts mehr glaubt außer ans Geld. Mal melancholisch,mal hinterlistig schleimig und dann wieder knallhart fordernd, präsentierte der Autor sich als perfekter Darsteller seiner Hauptfigur.
Neben ihm tat sich vor allem Pit Metz in der Rolle des Revolutionärs Andreas hervor. Ihm war dieser Part freilich geradezu auf den Leib geschrieben, ist der Hobby-Schauspieler doch langjähriger Betriebsratsvorsitzender der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) und ehrenamtlicher Kreisvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).
Ein witziger Gag der Inszenierung waren die Dialoge zwischen der geschäftstüchtigen Bauerstochter Anne-Mi und ihrem Verehrer Johann im dörflichen Dialekt des Ebsdorfergrunds. Dabei redeten sie nach und nach immer schneller, bis das städtische Publikum im Theatersaal ihre Rede kaum mehr verstand und nur noch als lautmalerische Aneinanderreihung ähnlich klingender Wortfetzen wahrnahm.
Nett war auch, wie Anne-Mi ein Volkslied sang und sich selbst dabei mit dem Akkordeon begleitete. Erst zierte sie sich, die letzte Strophe zu singen, bevor sie es schließlich doch tat.
Als völlig überzogene Karikatur eines "Dummchens vom Lande" wirkte dagegen das Hausmädchen Emma. Mit unverständlichem Quietschen machte sie die Trauer um ihren verstorbenen Arbeitgeber Simon und vor allem um ihre Stellung bei ihm zu einer jammervollen Lachnummer.
Eher Abziehbilder blieben auch der notgeile Baron und der Pfarrer, der den rechten Parolen des reaktionären Adligen mit einer hetzerischen Predigt "Gottes Segen" spendete. Gelungen indes war eine Szene zum Schluss, wo die Reaktionäre aus dem Publikum heraus ihrer Gewissheit Ausdruck verliehen, dass ihre Stunde noch kommen werde.
Insgesamt aber ist den - nicht miteinander verwandten - Schmidts mit der zweiten Folge der Geschichte um das "Wirtshaus an der Lahn" einmal mehr eine unvergleichliche Mischung aus dialekt- und Volkstheater, vergnüglicher und zugleich nachdenklich stimmender Geschichtsdarstellung sowie sozialkritischer Auseinandersetzung mit Geldgier, Anpassung an Not und aufrechtem Eintreten für eigene Rechte gelungen. Nachdem sie gut ein Jahr zuvor die erste Folge um die Zeit zu Ende des 19. Jahrhunderts auf die Bühne der Waggonhalle gebracht hatten, setzten sie die Darstellung auf ähnlichem Niveau fort.
Diese Leistung quittierte das Publikum nach knapp zweieinhalb Stunden einschließlich Pause mit begeistertem Applaus. Sicherlich wird es wieder in Scharen zur Waggonhalle strömen, wenn dort weitere Folgen aus der geschichtsträchtigen Burschen-Kneipe präsentiert werden.
Franz-Josef Hanke
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