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Feinsinniges Drama


Gesellschaftskritik mit Biss in gediegener Verpackung

23.09.2011 (jnl)
Identität und Sexualität stehen im Fokus von Sam Holcrofts rabenschwarzer Gesellschaftskomödie "Solange Du lügst". Das Erfolgsstück beim berühmten Edinburgh Theater-Festival kam als kleine Produktion auf der Studiobühne "Black Box" des Hessischen Landestheaters Marburg schon im Mai heraus.
Beim Publikum ist es bisher ein unterschätzter Geheimtipp, obwohl es großartiges Theater bietet. Die Aufführung am Donnerstag (22. September) hätte verdient, besser besucht gewesen zu sein.
Die Geschichte handelt von der ehrgeizigen jungen Frau Ana. Die Einwandererin versauert trotz guter Ausbildung in einem Sekretärinnen-Job. Aus lauter Frust über die fehlende Anerkennung macht sie mit ihrem Freund Schluss.
Mit ihrem Chef einigt sie sich auf einen Deal, sodass sie endlich einen Karrieresprung hinbekommt, indem sie ihm dafür Sex anbietet. Dessen Ehefrau Helen ist indes voller Angst, dass sie wegen einer Jüngeren auf der Strecke bleiben könnte.
Beide Frauen fallen aus eigenem Antrieb auf die Versprechungen eines Schönheits-Chirurgen herein, der ihnen unbegrenzte Attraktivität und Alterslosigkeit verspricht. Irgendwie muss frau halt ihre existenziellen Ängste unterkriegen.
Das ganze Paket des Geschlechterkampfs also wird aus genuin weiblicher Sicht von einer 26-jährigen Theaterautorin ins Visier genommen. Man ahnt gleich: da ist viel "Pfeffer" drin und es geht handlungsstark zu.
Die Inszenierung von Marc Wortel hat viel Schwung, Situationskomik und Witz. Man merkt währenddessen kaum, dass so viel Ernst im Spiel ist, so gut wird man unterhalten.
Das tolle Bühnenbild von Christian Werdin besteht aus einem - in sich selbst sehenswerten - riesigen hölzernen Kreisel. Manchmal schwingt er tagträumerisch zu amerikanischen Liebes-Schnulzen-Gesang. Dann wieder überrollt er wie losgelassen die Pläne der Akteure.
Von Renske Kraakman stammen die humorvoll treffsicheren Kostüme. Allein ihre Ausstattung des in die Wüste geschickten Boyfriends Edward mit einem Comic-Helden-Outfit in kurzen Hosen und Cape - alles in lindgrün gehalten - ist ein grandioser Spaß.
Alle fünf Darsteller zeigten eine pointensichere, hervorragende schauspielerische Leistung. Als überragend und auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen erwies sich Jürgen Helmut Keuchel in der Rolle des Schönheits-Chirurgen. Soviel Power und Ausstrahlung hatte er nicht einmal in der dankbaren Rolle des König Philipp im Don Karlos.
Daniel Sempf als vor seiner Frau schlotternder Ehemann und gegenüber der Sekretärin den Macho herauskehrender Miniatur-Boss zeigte enormes Komiker-Talent mit viel Mut zu inszenierter Lächerlichkeit. Gergana Muskalla - als eigentliche Hauptrolle des Stücks - brachte die innere Not, Frustriertheit und Entschlossenheit einer jungen Frau, die etwas ändern will, glaubwürdig heraus.
In der von Franziska Knetsch leicht karikierend verkörperten Mittelstands-Hausfrau Helen konnten sich vermutlich viele wiedererkennen. Und Tobias M. Walter als eifersüchtelnder Romeo empfahl sich als romantischer Liebhaber mit Pathos, Komik und Schmelz.
Dem Chefdramaturgen Alexander Leiffheidt darf man für seine wesentliche Rolle bei der Auswahl dieses Theater-Juwels dankbar sein. Sehr schade ist, dass durch die Ankündigung beim Publikum der irreführende Eindruck entstehen konnte, dass es sich um ein anstrengendes "Lügen-pfui"-Stück handele.
Wüssten die Leute, dass in diesem Dramen-Kleinod eigene Alltagserfahrungen aufgegriffen und federleicht in Lachen verwandelt werden, dann strömten sie möglicherweise nur so herbei und machten den Geheimtipp zu einem Triumph. Völlig naheliegend erschiene auch, sich mit dieser fulminanten Produktion an nationalen Wettbewerben zu beteiligen.
Das Potenzial ist gegeben. Nun müssen Medien und Mundpropaganda noch zur Verbreitung der Nachricht führen. Der Schlussapplaus nach knapp 90 Minuten Aufführung war jedenfalls entsprechend lang anhaltend.
Jürgen Neitzel
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