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Schillernde Veränderungen


Monster mit Herz im höfischen Spiel um die Macht

11.09.2011 (jnl)
Mit Friedrich Schillers Historiendrama "Don Karlos" war am Samstag (10. September) ein Eintauchen in ferne Vergangenheit angesagt. Die erste Premiere der neuen Spielzeit im Erwin-Piscator-Haus (EPH) war mit rund 300 Zuschauern gut besucht.
"Geben Sie Gedankenfreiheit!" Dieses - heute allenfalls mit dem Sturz arabischer Alleinherrscher verknüpfbare - Zitat ist ein "geflügeltes Wort" aus dem Bühnen-Klassiker. Zur Entstehungszeit des Stücks im späten 18. Jahrhundert war die Zurückdrängung der Herrschaft von Adel und Klerus zugunsten des aufstrebenden Bürgertums indes ein beherrschendes Thema.
Angesiedelt ist die Handlung am spanischen Königshof des späten 16. Jahrhunderts, als die protestantischen Niederlande gegen die katholischen Spanier um nationale Selbstbestimmung kämpften. Da jegliche Opposition von den Spaniern als Hochverrat mit Spitzeln und Inquisition verfolgt wurde, herrschte eine Atmosphäre der Unterdrückung.
Titelheld "Don Karlos" als Sohn des Königs kommt nicht klar damit, dass sein Vater ihm die heißgeliebte Braut vor der Nase weggeheiratet hat.
Ohnehin ist er ein schwacher Mensch und ein Antiheld - also als ein warnendes Beispiel, wie man es nicht machen darf, zu verstehen.
Die Inszenierung von Roscha A. Säidow präsentierte den Klassiker ohne größere Streichungen und wohltuenderweise ohne Deklamieren der Verse. Mit dem ideengeschichtlichen Kernthema des Dramas - der "Gedankenfreiheit" - konnte die junge Regisseurin aber ersichtlich nichts anfangen.
Das zeigte sich darin, dass die Verkörperungen der Adels- und Klerus-Herrschaft - Herzog Alba und Pater Domingo - keinerlei psychologisch-menschliches Profil bekamen. Als vampirisch verkleidete Schreckgestalten wie im Comic-Strip geisterten sie, wo es der Text verlangte, als die "Bösen vom Dienst" durch die Aufführung.
Erheblich mehr Aufmerksamkeit widmete die 26-jährige Nachwuchs-Regisseurin den zahlreichen Liebes-Verwirrungen der Tragödie. Diese unterhaltenden Teile des Stücks wurden schlüssig und mit hübschen kleinen Regie-Einfällen umgesetzt. Das Rendezvous der Eboli mit Karlos als Gesangsszene auszubauen, mag als Beispiel herhalten.
Jeder Rolle wurde von der Regie ein typisches Bewegungsmuster verpasst - mit unterschiedlichem Effekt. Beim König Philipp wirkte sein charakteristisch gesenkter Kopf treffend. Hingegen nervte das beständige Herummachen des Königssohns Karlos an den eigenen Kleidern schon bald.
Mit der Figur des Titelhelden konnte Säidow offenkundig nichts anfangen, außer seine närrisch unerwachsene Persönlichkeit zu denunzieren. Karlos-Darsteller Sven Mattke, der im Vorjahr im "Black Rider" sehr gut ausgesehen hatte, beherrschte zwar sein mimisches Handwerk, vermochte aber aus dieser Hauptrolle als "Sohn des Unglücks" nichts zu machen.
Da die Regie mit dem anachronistischen, 224 Jahre alten Bühnenstoff von der "Gedankenfreiheit" - wie wohl auch das Gros der Zuschauer - nichts verband, verschob sich das ganze Gewicht der Aufführung auf die Schauspieler. Als klassisch-aristotelische Tragödie in fünf Akten bot "Don Karlos" den Darstellern viele schöne Monologe, um ihr spielerisches Können herauszustellen.
Regen Gebrauch davon machten Jürgen Helmut Keuchel in der Rolle des Königs sowie Tobias M. Walter als Marquis von Posa. Beide lieferten beeindruckende, große Auftritte.
Sehr gelungen waren auch die Charakterstudien, die Annette Müller als Königin und Franziska Knetsch als Hofdame Eboli aus ihren Rollen machten. Auch die beiden weiblichen Nebenrollen von Agnieszka Habraschka und Christine Reinhardt - besonders als eindrucksvolle Verkörperung des Großinquisitors - machten dem Betrachter Freude.
Warum der von Jonas Breistadt bemerkenswert beweglich gespielten Pagen-Rolle so viel Raum gegeben wurde, erschloss sich allerdings nicht. Genausowenig schlüssig lässt sich begründen, warum Sven Mattke als "Karlos" sowie Johannes Hubert als "Domingo" und Sebastian Muskalla als "Alba" trotz sichtbaren handwerklichen Könnens derart als "Knallchargen" verheizt wurden.
Die Ausstattung ließ in puncto prachtvoller Kostüme und Masken nichts zu wünschen übrig. Lediglich die Frisur und Gestaltung des "Alba" hätte ein wenig mehr Härte eines militärisch geprägten adligen Offiziers vertragen. Muskalla wirkte in seiner Rolle - ganz anders als beim "Black Rider" - ohnehin nicht glücklich.
Die elektronischen Musik-Einspielungen, die von Bernhard Range stammten, kamen inszenatorisch richtig gut. Da hatte die Regisseurin eine gute Hand.
Das coole, strenge, aus einer in den Zuschauerraum hineinragenden "Halfpipe" bestehende Bühnenbild von Paul Faltz spaltete die Zuschauer geschmacklich in Befürworter und Gegner. Die Schauspieler und das Stück kamen damit gut zurecht; und das gibt den Ausschlag.
Die zweieinhalbstündige Aufführung - mit Pause - kam beim Premierenpublikum angesichts der guten Schauspielerleistungen insgesamt doch eher gut an. Es gab freundlichen, anhaltenden Applaus. Danach war - wer aus dem Publikum wollte - eingeladen zum Feiern der Premiere im Probensaal des Theaters am Schwanhof.
Jürgen Neitzel
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