18.05.2008 (jnl)
Galsan Tschinag ist ein mongolischer Schamane und zugleich ein preisgekrönter deutschsprachiger Schriftsteller. Am Sonntag (18. Mai) las er bei
"Literatur um Elf" im Cafe Vetter vor rund achtzig Zuhörern.
Weitaus mehr Menschen als sonst waren erschienen, um diesen mehr als außergewöhnlichen Schriftsteller zu erleben. Sie wurden nicht enttäuscht. In einer selbstbewußten und zugleich bescheidenen Manier verstand es der 63-Jährige, die Anwesenden für sich einzunehmen.
Bevor Tschinag ein Kapitel aus seinem aktuellen Roman "Die neun Träume des Dschingis Khan" in bestem Deutsch vortrug, gab er in freier Rede über seinen Lebensweg Auskunft. Ihn und die deutsche Sprache verbindet eine Geschichte dauerhafter großer Liebe. Ein Stipendium zum Germanistik-Studium an der Universität Leipzig in den frühen 60er Jahren bahnte ihr den Weg.
Der Mongole kommt aus dem schriftlosen Nomaden-Volk der Tuwiner. Alle Überlieferung erfolgt dort mündlich und aus dem Gedächtnis. "Das Archiv ist in den Köpfen", erläuterte Tschinag. Für ihn war Deutsch sein Glücksbringer.
30 eigene Bücher - Romane, Gedichtbände, Erzählungen - hat der Schriftsteller inzwischen veröffentlicht. Alle sind in deutscher Sprache verfasst.
Mit dem Chamisso- und dem Heimito-von-Doderer-Preis hat derMongole zwei hochrangige deutsche Literaturpreise bekommen. Im Brotberuf hatte er an den mongolischen Hochschulen Deutsch unterrichtet.
"Über 35.000 seiner Landsleute haben durch ihn Deutsch gelernt", stellte Gastgeber Ludwig Legge ihn vor. Für seinen enormen Einsatz erhielt der Tuwiner im Jahr 2002 das Bundesverdienstkreuz.
Die Frage, wofür er den Orden bekommen habe, brachte ihn anfangs in Verlegenheit, berichtete Tschinag. Seitdem führt er es schlicht darauf zurück, dass er eben "ein toller Kerl" sei - genau wie Dschingis Khan.
Für seine Lesung hatte der sportliche Senior sich das Schluss-Kapitel seines Romans ausgewählt. Die Schilderung der letzten Stunden des Dschingis Khan legte dar, wie der Heerführer sich allmählich dazu entschloss, sein eigenes Todesurteil zu befehlen. Vom Pferd gestürzt, fühlte der altgewordene Khan sich nutzlos und lebensmüde.
Im Zwiegespräch mit seinem Staats-Schamanen zeigte sich eine archaische Weltanschauung, die Altwerden mit "Nutzlos Sein" gleichsetzt. Dschingis Khan ist konsequent und hart - auch gegen sich selbst.
Der Autor erzählte spannend und ausgesprochen moralisch. Tschinag las mit leicht stockendem Akzent, aber laut und gut verständlich.
Die abschließende Fragerunde des Publikums drehte sich weniger um das Buch als um die Person Tschinags. Sein Hintergrund als praktizierender Schamane, Autor und Clan-Oberhaupt von rund 4.000 Menschen bewegte die Zuhörer am meisten.
Mit nachdenklicher Genugtuung berichtete der Schriftsteller von der Erfüllung seines Lebenstraums. Mit seinem Geld hatte er 1995 eine Karawane ausgerüstet, die seinem vor Jahrzehnten nach Südsibirien zwangsumgesiedelten Clan die Rückkehr in seine angestammte mongolische Ursprungs-Gegend ermöglichte.
Sein jüngster Sohn werde in seine Fußstapfen treten und die Führung des Clans übernehmen. Gegenwärtig betreibe der junge Mann in der mongolischen Haupstadt Ulan Bator einen deutschsprachigen Radiosender.
"Wie klingt eigentlich Tuwinisch?", wollte jemand wissen. Tschinag stimmte auf der Stelle einen ausdrucksstarken, zwischen laut und leise pendelnden Gesang an.
Als Zugabe las der Autor zwei beeindruckend sprachmächtige eigene Gedichte. Sternschnuppen kamen darin vor. Es ging aber nicht nur um Natur, sondern um Gedanken.
Von einem wahren Schaffensrausch sprach der Tuwine. Seit er ein eigenes steinernes Haus besitze, ergreife ihn häufig Arbeitswut.
Auf die Frage, wie Tschinags Lebensweg ihn nach Deutschland geführt habe, verwies der Schriftsteller energisch auf die beiden Bücher "Im Land der zornigen Winde" aus 1997 und "Der weiße Berg" aus dem Jahr 2000. Dort stände alles drin. Souverän beendete er dann die Fragen-Annahme.
Ludwig Legge indes ließ es sich nicht nehmen, voller Stolz auf ein von ihm eingefädeltes Anschluss-Projekt zu sprechen zu kommen. Im nächsten Jahr solle es eine Ausstellung mit vier mongolischen Künstlern in Marburg geben. Und Galsan Tschinag habe zugesagt, 2009 dafür die einführende Rede und Vermittlung zu übernehmen.
Eine anregende Matinee endete also mit der Aussicht auf eine erfreuliche Fortsetzung schon im kommenden Jahr.
Jürgen Neitzel
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