16.05.2008 (jnl)
Was haben persönliche Liebe und Gedächtnis miteinander zu tun? Dieses existenzielle Thema untersuchte Rolf Michenfelder in der Premiere seines neuen Solo-Dramas "Oooh I need your love babe" am Donnerstag (15. Mai) im Theater neben dem Turm (TNT).
Leicht verdauliche Unterhaltungs-Kost bot Michenfelder auch diesmal nicht. Auf einem hohen Niveau zeigte er ein 80-minütiges Performance-Theater für Anspruchsvolle. Im ausverkauften TNT gaben sich die Schauspiel-Feinschmecker Marburgs ein Stelldichein.
Worin besteht die Persönlichkeit, wenn ihre Verankerung abhanden kommt? Kann man einen Menschen lieben, dessen Gesicht man nicht versteht? Das sind durchaus alltagspraktische Fragen.
Wenn ein Angehöriger an Demenz erkrankt oder einen Schlaganfall oder Unfall erleidet, geht das Leben in völlig neue Bahnen. Durch den Verlust des Gedächtnisses geraten selbst jahrzentelange Liebesbeziehungen in die Bredouille.
Mit überaus eindrucksvollen Bildern gelang es Michenfelder, die existenzielle Dimension solcher "Schicksalsschläge" sinnlich erfahrbar zu machen. Die Bühne war eingangs bevölkert mit lauter "Erinnerungen" in Form von Kuscheltieren. Der Schauspieler lag weißgeschminkt und mit Kopfhörern auf einem Bett. Er war vertieft in ein Selbstgespräch mit einem Stoff-Schweinchen auf seinem Bauch. Das Bild der "Krise" war augenfällig.
In der zweiten Szene wurde Michenfelder zum Odysseus angesichts der Sirenengesänge. Gegen den Sturm der Emotionen war er nicht an einem Schiffsmast angebunden, aber mit Stiefeln am Bühnenboden befestigt. Bedrohliche Schwankungen des vornüberfallenden Körpers vollführte er mit großer Artistik.
In einer späteren Sequenz beschwor der Theatermann mit einer Holzfäller-Axt die Versuchung einer Ad-hoc-Lösung. In der Hinrichtung eines Stoff-Teddys
versinnbildlichte sich die Zerschlagung des Gordischen Knotens "auf einen Streich". Bemerkenswerterweise flickte der Protagonist den Teddy gleich danach wieder zusammen. Danach stand er im langen Kleid als "Säulenheiliger" auf dem tischhohen Hauklotz.
Eine sehr gelungene und aufwühlende Auswahl von Musik-Einspielungen steigerte die Eindringlichkeit etlicher Szenen. Die Independent-Rockerin "PJ Harvey" war mit zwei Stücken vertreten, des weiteren die Bands "Portishead" und "Sparks".
In mehreren Intermezzi während des Stücks wandte sich der Bühnenakteur in Brechtscher Manier direkt ans Publikum. Im Gedächtnis hängen blieb davon vor allem die eindringliche Rede vom täglichen prüfenden Blick in den Toiletten-Spiegel. "Können Sie sich selbst furchtlos ins Gesicht sehen?", fragte der Weißgeschminkte vom Bühnenrand.
Die produktive Verunsicherung der gewohnten Sichtweisen auf die eigene Person und Verletzlichkeit ist über den unmittelbaren Genuss des Spiels hinaus das Bleibende dieses Bühnenabends.
Das mit einem Beatles-Zitat aus "Eight Days a Week" betitelte Stück steht in bester Tradition zu Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns". Auch dort ist dem Protagonisten die geliebte Frau abhanden gekommen, ohne dass er sich damit abfinden könnte.
Die unheimlich unter die Haut gehende Traurigkeit in Gesicht und Körperhaltungen des Schauspielers entsprach der Wucht seines Themas. Und in der Schluss-Szene gelang Michenfelder ein wirklich krönender Abschluss. Er kleidete sich mit einem weißen Kleid aus dem Bühnen-Kühlschrank, einem langen schwarzen Mantel und einer großäugigen Kapuze samt langem gelbem Pappmaschee-Schnabel zu einem Riesen-Pinguin um. Das ist ein Bild, das hängenbleiben wird, weil es ein vollendetes Symbol für das "Mensch-Sein" in der Welt darstellt.
Das Premierenpublikum reagierte begeistert. Minutenlanger, nicht aufhören wollender Applaus führte zu mehr als einem halben Dutzend "Vorhängen" für Michenfelder und seine Choreografin.
Abschließend bleibt - angelehnt an einen Buchtitel der rumäniendeutschen Dichterin Herta Müller - festzustellen: Der Mensch ist ein großer Pinguin in der Welt.
Jürgen Neitzel
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