13.08.2011 (fjh)
"Die Mauer" erstreckt sich durch alle Kanäle. Den ganzen Tag über thematisieren Radio- und Fernsehstationen das Berliner Bauwerk. Mit dem Bau der Berliner Mauer war am 13. August 1961 begonnen worden.
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen", hatte der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht noch wenige Tage vorher beunruhigte Bürger beschwichtigt. Kurz danach hatte er sich damit selbst der Lüge überführt.
Fortan wurde die "Berliner Mauer" zum Sinnbild der Unmenschlichkeit. Doch auch "Staatsmänner", die dieses – von seinen Erbauern als "antiimperialistischer Schutzwall" entschuldigte - Bauwerk mit deutlichen Worten geißelten, haben hinterher in ihren Entscheidungsbereichen Mauern errichten lassen.
Eine Mauer "schützt" die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) vor Zuwanderern aus Lateinamerika, eine andere Mauer Israel vor Palästinensern. Durch Zypern zieht sich Stacheldraht wie einst zwischen Hessen und Thüringen.
Virtuelle Mauern haben sich noch weitaus massenhafter breit gemacht in vielen Hirnen. Auch die Mauer quer durch Berlin und Deutschland ist noch lange nicht überall überwunden.
Tagtäglich entstehen sogar neue Mauern im Denken vieler Menschen. Reiche mauern ihren Grund und Boden ein, um ihn vor Armen zu schützen. Wer dagegen aufbegehrt, den lassen sie von Polizei niederknüppeln.
So geschah es in den Tagen vor dem 50. Jahrestag des Mauerbaus beispielsweise in London, Manchester, Liverpool und Birmingham. Gewalttätige Übergriffe auf Menschen, Plünderei und blinde Zerstörungswut rechtfertigen zwar ein konsequentes Eingreifen der Polizei, doch muss man auch den Ursachen solcher Ausbrüche von Wut und Aggression auf den Grund gehen.
Diese Mauer im Denken allerdings wollen viele britische Politiker offenbar nicht durchbrechen. Anstatt sich Gedanken über eigene Fehler und eine asoziale "Sozialpolitik" zu machen, sorgen sie für eine harte Bestrafung selbst von Kindern.
Im beschaulichen Marburg mag mancher kaum glauben, dass sich eine ähnliche Mauer auch durch die mittelhessische Universitätsstadt zieht. Arme erhalten hier zwar staatliche Unterstützungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II), doch mutet das
KreisJobcenter (KJC) ihnen dafür manche menschenunwürdige Schikane zu.
Eine chronisch kranke Aufstockerin wurde zur Teilnahme an einer sogenannten "Maßnahme" aufgefordert, die sie wegen Terminüberschneidung mit Sicherheit ihre Stelle gekostet hätte. Dabei war sie nur wenige Wochen im Jahr auf Zusatzleistungen des KJC angewiesen.
Eine andere Leistungsbezieherin wurde von ihrem Fallmanager aufgefordert, sich von ihrem kranken Sohn zu trennen, um einen Ein-Euro-Job aufzunehmen. "Eine Mutter lässt ihr krankes Kind nicht allein", beschwerte die Ausländerin sich empört. Dass sie eine Erklärung unterschreiben sollte, womit sie ein Alkohol- oder Drogenproblem ausschloss, empfand die Frau, als habe das KJC sie "wie einen Penner behandelt".
Einen leicht behinderten Hartz-IV-Bezieher steckte das KJC für fünf Stunden täglich in einen Ein-Euro-Job. Nachdem die Wehrpflicht aufgehoben worden war und deswwegen ein Mangel an Zivildienstleistenden auftrat, forderte sein Fallmanager den Ein-Euro-Jobber auf, zusätzlich noch für den
Verein zur Förderung der Integration Behinderter (FIB) zu arbeiten. Als er dieses Ansinnen ablehnte, drohte der Fallmanager ihm mit den Sanktionsmöglichkeiten des "Gesetzgebers".
Teilnehmer einer – von der Presseabteilung des
Landkreises Marburg-Biedenkopf in den schönsten Tönen verherrlichten – "Qualifizierungsmaßnahme" sollten in einem – von einem Schauspieler des
Hessischen Landestheaters angeleiteten - "Rollenspiel" als "Herr und Sklave" die Wirkung von Macht und Ohnmacht austesten. Angesichts ihrer eigenen Ohnmachtserlebnisse empfanden manche diese Aufgabe als entwürdigend und unmenschlich.
Wenn im EU-Mitgliedsland Ungarn demnächst – wie von der Regierung unter Viktor Orban derzeit geplant – ein bewachter Arbeitsdienst eingeführt wird, dann werden vermutlich vor allem Roma und Sinti in Lager eingesperrt und zur Arbeit gezwungen. Aus Deutschland kennt man solche mörderisch diskriminierenden Zustände schon aus einer "tausendjährigen" Vergangenheit, doch kaum ein Mensch hat sich bisher hier deswegen vernehmlich gerührt.
Auch in Marburg bleibt die Menschenwürde auf der Strecke, wenn das KJC Bescheide verschickt, die im Wesentlichen aus Drohungen bestehen. Bleibt die Menschenwürde gewahrt, wenn Leistungsbezieher von vornherein unter Generalverdacht gestellt und mit dem Entzug ihrer Lebensgrundlage zu Wohlverhalten erpresst werden?
Unter dem verniedlichenden Titel "Schulkiosk" betreibt die
Gemeinnützige Gesellschaft für Integration in Arbeit im Landkreis Marburg-Biedenkopf (Integral) Kantinen in Schulen der
Stadt Marburg und des Landkreises. Mit Ein-Euro-Jobs finanzieren die Schulträger eine preisgünstige Mittagsversorgung der Schüler, nachdem die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre den Nachmittagsunterricht und damit das Mittagessen im Schulgebäude notwendig gemacht hat.
Die Beschäftigten beim sogenannten "Schulkiosk" schuften wie alle anderen Bediensteten von Kantinen, erhalten jedoch nur höchstens 1,50 Euro Stundenlohn zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld II (ALG II). Für ihr Selbstwertgefühl ist diese ungerechte Entlohnung sicherlich nicht förderlich.
Wenn solche Zustände fortbestehen und über die nächste Generation hinweg auf die Lebensläufe benachteiligter Familien durchschlagen, dann wird es auch in Deutschland nicht ruhig bleiben. Denn zumindest eine Mauer existiert nicht: Die zwischen Deutschland und Großbritannien, zwischen Marburg und Manchester oder zwischen den Politikern und den sogenannten "Wutbürgern".
Franz-Josef Hanke
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