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Mord an Behinderten


Hadamar-Dokumentation als Ausstellung zu Theaterstück

18.07.2011 (jnl)
Zeitgleich mit einem Vortrag des Gedenkstättenleiters Dr. Georg Lilienthal aus Hadamar eröffnete am Sonntag (17. Juli) in der Waggonhalle eine Dokumentations-Ausstellung. Beide zusammen bilden das Rahmenprogramm zu Willi Schmidts neuem Theaterstück "Der Schlaf der Geige". Für die Konzeption und Umsetzung hatte Schmidt die Magistra der Europäischen Ethnologie Siemke Hansen gewonnen. In Zusammenarbeit mit der Archivleiterin des Landeswohlfahrtsverbands Kassel (LWV) hatte sie die Fakten zusammengetragen.
Auf vier Schautafeln mit jeweils zwei DIN-A3-Formaten pro Rahmen wurden die wichtigsten historischen Themen zur Nazi-Euthanasie zusammengefasst. Drei weitere, kleinere Rahmen enthielten DIN-A4-Fotos von namentlich bekannten Opfern, die dem Schrecken Gesichter gaben.
Fast die Hälfte der Dokumentation widmete sich den Machenschaften der - nach dem Berliner Sitz in der Tiergartenstraße 4 - kurz "T4" genannten Euthanasie -Zentrale. Die Schreibtischtäter der Nazis hatten ihr Vorhaben organisatorisch perfekt durchgeplant.
Aufgeteilt in - dem Namen nach selbständige - Verwaltungseinheiten verschickten sie Erfassungs-Fragebögen, stellten Personal für die Tötungseinrichtungen und "Zwischenanstalten" ein und führten Statistiken und Kostenabrechnungen. Das Ganze addierte sich zu einer gut getarnten, industriemäßigen Mordmaschinerie.
Allein aus dem Hessischen führten fünf "Zwischen-Anstalten" dem Euthanasie-Mordzentrum Hadamar Opfer zu. Sie befanden sich in Eichberg, Herborn, Idstein, Scheuern und Weilmünster. In einem Mitarbeiter-Gruppenfoto zeigten sich 16 Hadamar-Mittäter als optimistische Angestellte.
Grafiken, Tabellen, Fotos, Organigramme und Originalschriftstücke rundeten zusätzlich zu den Texten das Gesamtbild ab. Eigene Tafeln widmeten sich den Themen Kinder-Euthanasie, Zwangssterilisation und der - größtenteils unterbliebenen - strafrechtlichen Aufarbeitung.
Kritisch angesprochen wurde die Ausstellungsmacherin auf eine Passage, in der durch die Formulierung der Eindruck entstehen konnte, dass der bei den Nazis in industriell betriebenen Mord ausgeartete sogenannte "Sozialdarwinismus" unmittelbar aus den Lehren von Charles Darwin ableitbar sei. Richtig hätte es heißen müssen, dass der Sozialdarwinismus eine im späten 19. Jahrhundert entstandene krude Verdrehung der Darwinschen Evolutionstheorie darstellt.
Auch fehlte der Hinweis, dass Sozialdarwinismus auch heute noch eine durchaus populäre Rolle spielt. Die Beispiele Hartz IV oder der Rechtspopulist Thilo Sarazin und die zahlreichen Fans seines Bestsellers mögen als naheliegend genügen.
Dass die zugrundeliegende Philosophie, prinzipiell alles vom - eigenen, betrieblichen oder staatlichen - Nutzen her zu bewerten, Utilitarismus heißt, hatte ebenfalls keinen Eingang in die Dokumentation gefunden. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass eine offizielle "Rechtfertigung" für die Nazi-Euthanasie auf die Vernichtung "unnützer Esser" hinauslief. Insgesamt leistete die - kunstvoll von der fünf Meter hohen Decke herab gehängte - Ausstellung aber wertvolle Aufklärung über einen der verdrängtesten Bereiche der deutschen Nazi-Vergangenheit.
Jürgen Neitzel
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