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Gemeinsam tot


Erschütternder Vortrag über Euthanasie

17.07.2011 (fjh)
217 Behinderte und Kranke wurden aus der Psychiatrie in Marburg nach Hadamar gebracht. 211 von ihnen wurden dort zwischen Januar 1940 und August 1941 ermordet.
Diese Zahlen nannte Dr. Georg Lilienthal bei einem Vortrag am Sonntag (17. Juli) in der Waggonhalle. Der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte Hadamar berichtete über seine Kenntnisse zur Deportation von psychisch Kranken und Behinderten in die Gaskammern der psychiatrischen Einrichtung unweit von Limburg.
Eingeladen hatte das Kulturzentrum Waggonhalle den Wissenschaftler im Rahmen einer Theaterproduktion über die nationalsozialistische Euthanasie. Mit ihrem herausragenden Stück "Der Schlaf der Geige" haben Willi Schmidt und Mareike Kemp die Thematik sehr einfühlsam und bewegend auf die Bühne gebracht.
Gleichzeitig mit Lilienthals Vortrag wurde am Sonntagnachmittag auch eine Ausstellung über den Massenmord an behinderten und kranken Menschen eröffnet. Schmidt erklärte, als Autor wolle er die Diskussion über dieses - auch heute immer noch weithin verdrängte - Thema anstoßen.
Als angeblich "lebensunwertes Leben" wurden von den Nationalsozialisten all diejenigen ausgesondert, die der Norm nicht entsprachen und geistig behindert oder psychisch krank waren. Wer nicht mithalten oder wenigstens mitarbeiten konnte, wurde im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms als "unnützer Esser" dem Tod preisgegeben.
Lilienthal beschrieb die Struktur dieses organisierten Massenmords, dessen Zentrale sich in der Tiergartenstraße 4 (T4) in Berlin befand. Dort entschieden drei Ärzte nach Aktenlage über Leben und Tod.
Im Herbst 1939 erhielten alle Psychiatrischen Krankenhäuser im deutschen Reich Fragebögen, in denen sie Angaben zu ihren Patienten machen mussten. Anhand dieser Akten erstellten die Ärzte von T4 Transportlisten derjenigen Patienten, die zur Tötung abgeholt werden sollten.
Um Spuren zu verwischen und die Logistik der sechs Tötungsanstalten möglichst reibungslos zu gestalten, wurden die Patienten von den örtlichen Krankenhäusern zunächst zu Zwischenstationen gebracht. Von dort aus kamen sie dann in die Tötungsanstalt, wo sie noch am selben Tag vergast wurden.
Etwa 10.000 Menschen wurden 1940 und 1941 in den Gaskammern von Hadamar ermordet. In einer zweiten Welle ab 1942 wurden Behinderte dann in Anstalten durch Giftspritzen getötet oder einfach der Unterernährung preisgegeben. Auf diese Weise starben in Hadamar bis 1945 noch weitere 4.500 Patienten.
Nach einer sehr scharfen Predigt des weithin beliebten Bischofs Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 im Dom zu Münster hatte Adolf Hitler selbst am 24. August 1941 den sofortigen Stopp des Euthanasie-Programms angeordnet. Der katholische Bischof von Münster hatte in sehr deutlichen Worten die Ermordung von Behinderten als schweres Verbrechen angeprangert.
1942 begannen die Kliniken dann heimlich mit weiteren Tötungsaktionen. Die Gaskammern hatte man zwischenzeitlich in den meisten Kliniken abgebaut.
Sehr bewegend war das Beispiel einer Mutter, deren zwei junge Töchter beide in Hadamar ermordet wurden. Lilienthal las aus ihren Briefen vor, in denen sie den geliebten Kindern Süßigkeiten schickt und Besuche ankündigt, die dann aber wegen des vorherigen Tods der Töchter nie mehr stattgefunden haben.
Von Unmut in der Bevölkerung rund um die Tötungsanstalten wusste Lilienthal ebenso zu berichten wie von Unterschriftenaktionen zugunsten der Mörder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach 1945 sei das Thema weitgehend unter den Teppich gekehrt worden.
Hatten US-amerikanische Gerichte zunächst noch einige Täter zu scharfen Strafen verurteilt, so fielen die Urteile nach 1947 meist sehr milde aus, wenn es überhaupt zu einer Anklage und einer Verurteilung kam. Erst der Auschwitz-Prozess, den der Hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer 1961 angestrengt hatte, brachte hier eine Wende.
Dennoch konnten die Täter auch in Marburg bis in die späten 80er Jahre unangefochten weiter wirken. Allerdings waren es Besucher im Publikum, die auf diese Fälle hinwiesen und sehr genaue Kenntnisse vortrugen, während Lilienthal hier wenig beizusteuern wusste.
Eine kontroverse Debatte rankte sich um Prof. Dr. Hermann Stutte, der in mindestens sechs Fällen die Zwangssterilisierung Behinderter angeordnet hatte. Nach Kriegsende wirkte er unter anderem auch als Begründer der Lebenshilfe mit.
Auch Prof. Dr. Werner Joachim Eicke konnte nach Kriegsende ungehindert weiter die Psychiatrische Anstalt in Marburg-Cappel leiten, obwohl er schon für seine Dissertation die Hirne von Kindern untersucht hatte, die der nationalsozialistischen Euthanasie zum Opfer gefallen waren. Bis 1988 war er als Psychiater in Marburg tätig.
So detailreich und engagiert Lilienthal Zahlen und Schicksale von Opfern der Mordanstalt Hadamar vortrug, so mager waren seine Kenntnisse über die Täter. Über einige wenige Verfahren wusste er zwar zu berichten, doch viele wichtige Fakten blieb er leider schuldig.
Nicht einmal die Bedeutung des Behindertenmords als eine Art Testlauf für die Ermordung von sechs Millionen Juden erwähnte er. Auch seine Hinweise auf den Umgang mit Diktaturen in der heutigen Zeit blieben leider nebulös.
Dennoch hat sein Vortrag einen wichtigen Beitrag dazu erbrach, die Debatte um den Mord an etwa 70.000 Menschen aufgrund ihrer Krankheit oder Behinderung anzuprangern. Wesentlich eindrucksvoller hat diese Aufgabe aber das Theaterstück "Der Schlaf der Geige" geleistet, das ab Dienstag (19. Juli) wieder in der Waggonhalle aufgeführt wird.
Franz-Josef Hanke
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