06.07.2011 (fjh)
"Auch unsere Asche werden sie nach Hause schicken, wenn wir nach Hadamar kommen", sagt Hannes zu Maja. Die beiden Behinderten sind in einer Psychiatrischen Anstalt eingesperrt.
Das nationalsozialistische Euthanasie-Programm ist Thema des neuen Stücks "Der Schlaf der Geige" von Willi Schmidt und Mareike Kemp. Die Uraufführung des Dramas um Liebe, Lebenswillen, Krankheit und Gesundheit sowie Gewalt und Tod fand am Dienstag (5. Juli) in der
Waggonhalle statt.
"Ich bin die Geige", sagt Maja. "Ich träume."
Tatsächlich ist die junge Frau eine Tagträumerin. Aber nicht immer weiß sie ganz genau, wer sie ist.
Zu Beginn sagt sie Hannes, sie sei eine Pflegerin. Sie fordert ihn auf, sich immer schneller um die eigene Achse zu drehen, bis er ins Taumeln gerät.
Hannes leidet an Anfällen. Deshalb wurde er in die Anstalt gesperrt.
"Aber ich bin doch noch zu etwas nutze", meint er. Schließlich erledige er im Garten des Grafen all diejenigen Arbeiten, für die sich andere zu schade seien.
Mal monologisierend, mal im lebhaften Zwiegespräch nähern sich Hannes und Maja allmählich aneinander an. Doch beide wissen, dass sie sterben sollen.
"Hast Du Angst?" Auf Majas Frage antwortet Hannes leise: "Ja!"
Poetisch und eindringlich ist dieses Stück, das den Ermordeten des faschistischen Rassenwahns Gesicht und Stimme gibt. Wenn Hannes den ersten Schnee im November beschreibt oder die Spiele der Kinder des Grafen, die einander und sogar ihren Vater mit Laub bewerfen, dann entstehen plastische Bilder des alltäglichen Lebens mit allen Schattierungen zwischen Traurigkeit und Heiterkeit.
Fast schockierend ist dann die Szene, als Hannes zu Maja sagt: "So etwas wie Dich sollte man nicht am leben lassen!" Doch schon zwei Sätze später fragt er, ob er selber am leben bleiben wird, wenn er sich nur auf die Seite der Mörder schlägt.
Mit großem Feingefühl hat Schmidt dieses Drama inszeniert, dessen böses Ende schon bald klar wird. Doch wenn Maja von ihrem Vater schwärmt oder sich am Gras im Frühling freut, dann wird deutlich, dass nicht sie verrückt ist, sondern diejenigen, die sie eingesperrt haben.
Vollkommen unaufgeregt bringen Schmidt und Kemp als Hannes und Maja das schwierige Thema auf die Bühne. Besonders Schmidt zeigte am Premierenabend eine herausragende Ausdruckskraft. Aber auch Kemp überzeugte als schizophrene Anstaltsinsassin.
Innerhalb der gesamten Dreiviertelstunde kamen die beiden Diagnosen "Schizophrenie" und "Epilepsie" indes nicht ein einziges Mal vor. Hannes bezeichnete seine Krankheit als "Fallsucht", weil er bei seinen Anfällen meist zu Boden falle.
Bewegend waren auch das Spiel der beiden Darsteller und die Inszenierung, die mit einem braunen Bühnenbild und minimalistischen Mitteln umso größere Wirkung erzeugte. Nur einmal sahen die Zuschauer für einen kurzen Moment die Silhouette einer dritten Person, die aussah wie ein bewaffneter SS-Wachmann. Währenddessen berichtete jemand aus dem Off, dass Hannes und Maja bei Kälteversuchen umgekommen seien. Die Versuchsergebnisse gelten noch heute als Referenz für die Medizin.
Danach bewerfen sich die beiden Schauspieler mit brauner Erde. Dieses Begräbnis ließ ein beeindrucktes Publikum zurück.
Vielleicht hätte das Stück auch die Motivation behandeln können, mit der die sogenannten "Ärzte" den Mord an ihren behinderten Patienten – möglicherweise sogar vor sich selbst – rechtfertigen wollten. Angeblich hätten sie diesen armseligen Kreaturen ja nur "Leid ersparen" wollen.
Auch wenn diese Seite des Themas kaum beleuchtet wurde, war der Abend rundum gelungen. Wahrscheinlich war die konsequente Beschränkung auf die Sicht der Opfer wohl seine größte Stärke.
Inszenierungen wie diese sollten eigentlich zum alljährlichen Berliner Theatertreffen eingeladen werden. Schließlich sind Haltungen, die das Leben von Behinderten für weniger wertvoll erachten als das "gesunder" Menschen, immer noch viel zu häufig anzutreffen. Zudem hat "Der Schlaf der Geige" dieses unbekömmliche Thema auf wunderbare Weise in ein menschliches Plädoyer für mehr Mitgefühl verzaubert.
Wenn die Inszenierung nach ihrer zweiten Aufführung am Mittwoch (6. Juli) ab Sonntag (17. Juli) in der Waggonhalle wieder aufgenommen wird, soll es auch eine begleitende Ausstellung und eine Diskussionsveranstaltung zum Thema "Euthanasie" geben. Wahrscheinlich können aber all diese Ergänzungen nicht so viel bewegen wie das wunderbare Theaterstück in seiner eindringlichen Poesie.
Franz-Josef Hanke
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