22.06.2011 (fjh)
"Auf jedem Dorffriedhof gibt es ein Denkmal für die Gefallenen des Krieges, aber fast nirgendwo ein Denkmal für die Opfer des Faschismus." Hier sieht Willi Schmidt Handlungsbedarf.
Mit seiner neuen Produktion "Der Schlaf der Geige" möchte der Autor und Regisseur Denkanstöße geben. Das neue Theaterstück handelt von zwei fiktiven Personen, die im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasie-Programme ermordet wurden.
Seine Beweggründe und den Inhalt der 15. Eigenproduktion des Kulturzentrums Waggonhalle stellte Schmidt am Mittwoch (22. Juni) vor. Premiere wird das Zwei-Personen-Stück am Dienstag (5. Juli) um 20 Uhr feiern.
Entwickelt hat Schmidt die Produktion gemeinsam mit Mareike Kemp. Sie ist auch seine Mitspielerin in dem Theaterstück.
Die beiden Figuren sind behinderte Menschen, die sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte erzählen. Während der Mann unter epileptischen Anfällen leidet, hat die Frau eine Persönlichkeitsstörung. Sie glaubt, sie sei eine Pflegerin.
Allein aus dieser Situation bezieht das Stück schon einige interessante Effekte. Sie bringt Handlung in die Dialoge hinein, die das grausame Geschehen der schlimmsten deutschen Geschichtsepoche auf persönliche Erfahrungen herunterbrechen.
Der Titel "Der Schlaf der Geige" bezieht sich nach Schmidts Angaben auf die musikalische Vorgeschichte der weiblichen Protagonistin. Sie hat einmal Geige gelernt.
Angeregt zu dem – nicht gerade leicht verdaulichen - Stoff hat den Autor eine lokalgeschichtliche Chronik aus dem Marburger Stadtteil Schröck. Von hier waren zwei behinderte Menschen in die Gaskammern von Hadamar deportiert worden.
Noch heute befindet sich in dem hessischen Ort unweit von Limburg groteskerweise ein Psychiatrisches Krankenhaus. In den Kellern können Interessierte die Gaskammern besichtigen, in denen sich heute eine Gedenkstätte befindet.
Deren Wissenschaftlicher Leiter Dr. Georg Lilienthal wird am Sonntag (17. Juli) um 15 Uhr eine Begleitausstellung über die Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten in Hessen eröffnen. Bestückt wurde sie mit Material aus dem Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen (LWV) in Kassel, der die Psychiatrie und die Gedenkstätte in Hadamar heute betreibt.
Wie viele Menschen aus Marburg und den umliegenden Dörfern in die Gaskammern von Hadamar deportiert wurden, ist nicht genau bekannt. Bekannt ist aber, dass Beteiligte an diesen Vernichtungsaktionen auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unangefochten weitermachen konnten.
So hat Werner Eicke trotz seiner Verstrickung in die Deportationen von Patienten seiner Klinik auch nach 1945 noch als Leiter des Psychiatrischen Krankenhauses in Cappel fungiert. Bis 1988 wirkte er als Psychiater in Marburg.
Auch die Rolle von Carl Strehl wurde in den 90er Jahren heftig diskutiert. Als bekennender Freimaurer war er zwar gewiss kein Nazi, doch hat er mit den Mächtigen seinerzeit paktiert, um die von ihm geleitete Deutsche Blindenstudienanstalt (BliStA) zu schützen. Einigen sind seine Anpassungsversuche dabei zu weit gegangen, zumal er nach dem Ende der Nazi-Diktatur nie öffentlich über seine Verstrickung gesprochen hat.
So kann es gut sein, dass Schmidt auch mit seiner neue Produktion wieder in ein Wespennest sticht. Bei seinem vorangegangenen Stück "Das Sängerfest" hatte er den Missbrauch von Mägden im bäuerlichen Milieu thematisiert, was zu heftigen Reaktionen aus der dörflichen Bauernschaft führte.
Anlegen auf eine solche Reaktion wolle er es nicht, beteuerte der Autor. Allerdings hält er es für dringend nötig, das Thema Deportation und Zwangssterilisierung Behinderter zu thematisieren und dadurch zum Nachdenken anzuregen.
Brandaktuell ist das Thema allemal. Erst am Freitag (3. Juni) hat die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) in Frankfurt dem sogenannten "Bio-Ethiker" Peter Singer ihren sogenannten "Ethik-Preis" verliehen. Singer vertrat die These, bis zu 28 Tage nach der Geburt dürfe man behinderte Kinder töten, um ihnen angebliches "Leid" zu ersparen.
Seinen Opfern "Leid" ersparen wollte angeblich auch Dr. Aquirin Ulrich. Jedenfalls rechtfertigte er mit dieser Begründung vor Gericht seine Aktivitäten zur Ermordung Behinderter.
"Man kann das auch symbolisch verstehen", erklärte Schmidt, als er das Bühnenbild für seine Produktion beschrieb. Es handelt sich um einen offenen Sarg, in dem und um den herum die beiden Protagonisten sich bewegen.
"Dieses kleine Bühnenbild und zwei Personen sind leichter irgendwohin zu bewegen als ein ganzer Männergesangsverein", meinte Schmidt. Deswegen zeigte er sich offen für Vorschläge, seine Produktion auch außerhalb der Waggonhalle aufzuführen.
Gerne ginge er damit beispielsweise in Schulklassen. Auch möchte er das Stück in Schröck zeigen, weil dort ja zwei konkrete Schicksale Anknüpfungsmöglichkeiten für seine fiktive Geschichte bieten.
Franz-Josef Hanke
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