15.01.2008 (fjh)
"Der Eispalast ist der eigentliche Gipfel für Blinde", meinte Sabryie Tenberken. Im überfüllten Marburger Filmkunst-Theater "Kammer" standen die blinde Pädagogin und ihr Partner Paul Kronenberg nach einer Vorführung des Dokumentarfilms "Blindsight" am Montag (14. Januar) Rede und Antwort.
Schon 20 Minuten vor Beginn war die Vorstellung ausverkauft. Eine lange Schlange Interessierter zog sich durch die Gänge und das Treppenhaus des Kinos in der Marburger Oberstadt.
Vollkommen atypisch war das Publikum an diesem Abend: Die übergroße Mehrheit der Kino-Besucher war blind oder stark sehbehindert.
Viele kannten die junge Tibetologin noch aus gemeinsamen Zeiten an der
Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA). Schließlich hat Sabryie Tenberken ihr Abitur an der Carl-Strehl-Schule (CSS) in Marburg abgelegt.
"Für mich ist Marburg gewissermaßen eine zweite Heimat", bekannte die gebürtige Bonnerin. Vieles verdanke sie ihren Marburger Lehrern, die ihr Selbständigkeit vermittelt hätten und sie zugleich aufgefordert hätten, ihre Grenzen selbst herauszufinden.
Anschließend präsentierte das Kino eine Version des Films mit Audio-Deskription. Dabei wurden die Pausen in den Dialogen durch Erklärungen ausgefüllt, die die jeweils gezeigten Bilder oder die eingeblendeten Untertitel in Sprache umsetzten.
In ihrem Film hat Regisseurin Sally Walker die blinde Deutsche Sabryie Tenberken und ihren sehenden niederländischen Partner Paul Kronenberg dabei beobachtet, wie sie gemeinsam mit einer Gruppe von sechs blinden Jugendlichen aus Tibet einen 7000er Berg im Himalaya besteigen. Angeführt wurde diese Gruppe von dem blinden amerikanischen Bergsteiger Erik Weihenmayer.
Während für die US-Bergsteiger der Gipfel ihrer Anstrengungen darin bestand, den Gipfel des Berges zu erreichen, sah Sabryie Tenberken ihren Gewinn mehr darin, in der Gruppe gemeinsame Erfahrungen von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung zu machen. Außerdem genießt sie es, unterwegs alle Sinneseindrücke wie Gerüche oder Tast-Eindrücke in sich aufzusaugen.
Gerade für die sechs jugendlichen Tibeter war es wichtig, bis an die Grenzen ihrer Fähigkeiten zu gehen. Die traditionelle Sicht von Blindheit ist dort häufig die Vermutung, dass die Behinderung eine Strafe für erhebliche Verfehlungen in einem früheren Leben sei. Insofern werden die blinden Schülerinnen und Schüler der - von Tenberken und Kronenberg 1998 gegründeten - ersten tibetischen Blindenschule in Lhasa immer wieder als "blinde Tölpel" beschimpft.
Selbstvertrauen und Solidarität standen für die Jugendlichen und ihre Lehrerin auch bei der Berg-Expidition im Vordergrund. Die erprobten Bergsteiger hingegen wollten ihr Selbstvertrauen daraus ziehen, die Gruppe der blinden Jugendlichen unbeschadet bis zum Gipfel gebracht zu haben.
Doch die Höhenkrankheit und Erschöpfung zwangen drei Jugendliche schließlich zur Aufgabe. Nun entspann sich eine heftige Debatte, ob die restliche Gruppe weitergehen solle oder nicht.
Nicht der Gipfel, sondern ein Besuch im natürlichen "Eispalast" unterhalb des höchstgelegenen Camps in 6.400 Metern Höhe war für Tenberken und die drei übrig gebliebenen Jugendlichen letztlich das größte Erlebnis ihrer Expedition. Nicht zuletzt deswegen ist der knapp zweistündige Film auch ein überzeugendes Plädoyer für Solidarität und Selbstvertrauen gerade auch behinderter Menschen. Diese Aussage unterstrich die "Hauptperson" in der anschließenden Fragerunde noch sehr eindringlich. Hintergründe zur Schule und dem Film-Projekt hat sie in ihrem Buch "Das siebte Jahr" dargelegt, das sie im Anschluss an die Diskussion im Foyer des Kinos signierte.
Auf einen gravierenden Mangel des Films wies Tenberken zum Abschluss der Fragerunde hin: Im Film werden immer nur die Blinden gezeigt, wie sie an der Höhenkrankheit und an Erschöpfung leiden. Genauso stark habe die Höhenkrankheit aber auch nichtbehinderte Kameraleute und die Regisseurin betroffen.
Franz-Josef Hanke
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