08.06.2011 (jnl)
Das neue Modell "Bürgerarbeit" wird im
Landkreis Marburg-Biedenkopf greifbar. Am Beispiel einer aktuellen Stellenbesetzung, die alle beteiligten Seiten glücklich machen soll, stellte der Landkreis am Mittwoch (8. Juni) die Vorteile der Konzeption anschaulich der Öffentlichkeit vor.
Der Erste Kreisbeigeordnete Dr. Karsten McGovern stellte gemeinsam mit dem Vereinsvorsitzenden Prof. Dr. Tilo Kircher vom Marburger Bündnis gegen Depression und dem frischgebackenen Bürgerarbeiter Jörg Tischler den Stand der Dinge vor. Ebenfalls für Rückfragen zur Verfügung standen die KJC-Leiterin Andrea Martin sowie ihr Projekt-Koordinator Christoph Rathert.
Das Vorgehen, das zu einem Bürgerarbeits-Vertragsabschluss führt, stellte sich als relativ komplex heraus. Die Anmeldung von Bedarf soll in der Regel von gemeinnützigen Trägervereinen oder halbstaatlichen Stellen ausgehen.
Die Projekt-Arbeitsgruppe des KreisJobCenters (KJC) gibt auf Anfrage fachliche Hilfestellung bei der Antragsformulierung. Um die Zuschüsse des Europäischen Sozialfonds (ESF) zu bekommen, muss beim finanziell federführenden Bundesverwaltungsamt (BVA) ein überzeugender Antrag vorliegen.
Der Verein "Marburger Bündnis gegen Depression" hatte großen Bedarf für einen geeigneten hauptamtlichen Mitarbeiter. Aktivitäten zur Vernetzung mit Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbänden und im Themenfeld Depression Tätigen sowie Öffentlichkeitsarbeit verlangten erheblich mehr Einsatz, als man ehrenamtlich und nebenbei leisten kann.
Als die Vereinsführung von der neuen Möglichkeit erfuhr, einen voll bezuschussten Bürgerarbeiter dafür zu bekommen, war man begeistert. Gemeinsam mit der Projekt-Gruppe des im Landkreis zuständigen Fachbereichs KreisJobCenter wurde eine Stellenbeschreibung entwickelt und nach einem passenden Bewerber gesucht.
Fündig wurde man im kreiseigenen Integral-Projekt "Aufbruch", das die mindestens sechsmonatige sogenannte "Aktivierungssphase" betreut. Tischler, der ein Medizinstudium mitbrachte und seit längerem ohne festen Job dastand, sieht in dem Angebot eine große Chance, beruflich wieder Fuß zu fassen.
Seit Mittwoch (1. Juni) hat der 44-jährige Ex-Erwerbslose den Bürgerarbeitsplatz angetreten. Im Universitätsklinikum wurde ein eigenes, kleines Büro bezogen.
Die vom BVA bis 2014 bewilligte Stellenzusage wird vom KJC nach Ablauf eines Jahres für ihn - wie für alle - überprüft. Schließlich gehe eine mögliche Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt immer vor, sagte McGovern. Kircher äußerte sich enthusiastisch über die gute Zusammenarbeit mit dem Landkreis und den fachlich sehr geeignet erscheinenden neuen Mitarbeiter.
Ein Bürgerarbeiter bekommt monatlich 900 Euro brutto ausgezahlt sowie 180 Euro Sozialversicherungsbeiträge. Dafür muss er 30 Arbeitsstunden wöchentlich leisten. Falls nur 20 Wochenstunden vereinbart werden, gibt es statt insgesamt 1.080 Euro nur 720 Euro.
Um einen existenzsichernden Lebensunterhalt zu erreichen, muss man daher - besonders wenn Familienangehörige dazukommen - aufstockend weiter Hartz4 beziehen. Nur bei Alleinstehenden käme man tendenziell ohne Aufstockung aus, erläuterte die KJC-Chefin.
Die Antragsfrist für die Neubewilligung von Bürgerarbeit läuft am 31. Oktober 2011 aus. Allerdings könne man aus den Erfahrungen der Vergangenheit davon ausgehen, dass diese möglicherweise verlängert werde.
Marburg-Biedenkopf hat vor, im Kreisgebiet bis zu 200 "Bürgerarbeitsplätze" einzurichten. Von den bereits bewilligten 38 Anträgen wurden bislang 14 Stellen tatsächlich besetzt. Beispiele sind das Gebrauchtwaren-Kaufhaus der Praxis GmbH sowie die Kleiderkammer in der Gemeinde Münchhausen. Bis Ende Mai 2011 gab es insgesamt 606 "Aktivierungen" bei "Aufbruch".
McGovern grenzte die gesetzlich vorgegebenen Bereiche klar ab. Nur zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Tätigkeitsfelder außerhalb der gewerblichen Wirtschaft kommen in Frage. Daher gebe es keine Genehmigung für Reinigungsarbeiten, Grünflächen- oder Krankenpflege.
Vorstellbar seien hingegen Museen, Vorlesen, Ernährungsberatung oder die Beschilderung von Rad- und Wanderwegen. Vereine aus dem sozialen oder kulturellen Feld hätten gute Chancen, gemeinsam mit der KJC-Projektgruppe Anträge durchzubekommen. Bekannt ist etwa, dass der
Kulturladen kfz seine künftig wegfallenden Zivildienstleistenden durch Bürgerarbeiter ersetzen möchte.
Stolz berichtete McGovern, dass seine Stabsstelle durch die frühzeitige Beantragung von Bürgerarbeitsstellen im Wettbewerb mit anderen Kommunen verlustfrei und gut dastehe. Denn die vom Bundesministerium für Arbeit (BMA) eingebrachten Geldmittel seien zuvor allen Jobcentern mit einer pauschalen Kürzung weggenommen worden.
Das Modellprojekt Bürgerarbeit wird je zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des BMA finanziert. Weitere Infos und Öffentlichkeitsarbeit finden sich im Internet unter
www.buergerarbeit.bund.de.
Jürgen Neitzel
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