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Becker referierte


Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg

31.05.2011 (fjh)
Unter dem Titel "Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg?" las der Marburger Rechtsanwalt Dr. Peter Becker am Montag (30. Mai) aus seinem Buch "Aufstieg und Krise der deutschen Stromkonzerne". Mit einem sehr ausführlichen Koreferat führte Bürgermeister Dr. Franz Kahle als Vertreter der Veranstalter ins Thema ein. Gut 30 Interessierte waren der Einladung des Stadtverbands Die Grünen Marburg in den Historischen Saal des Rathauses gefolgt.
Zunächst erinnerte sich Kahle an seine Zeit als Vorsitzender des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses (AStA). Zum Erstaunen der Aktiven dort habe man in den Räumen des AStA Marburg seinerzeit ein Transparent mit der Forderung nach mehr Atomkraftwerken (AKW) gefunden. Vor 30 Jahren sei diese Technologie auch bei fortschrittlich denkenden Menschen noch als positive Möglichkeit zur Entlastung von schweißtreibenden Arbeiten eingeschätzt worden.
Mit einem geschichtlichen Rückblick auf die Entstehung der deutschen Energiekonzerne begann auch Becker seine informativen Ausführungen. Bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts habe man begonnen, regional begrenzte Konzessionen für den Aufbau von Strom- und Gasnetzen zu verteilen.
Dadurch habe es von Anfang an keine ernsthafte Konkurrenz zwischen den verschiedenen Stromerzeugern gegeben. Diese Situation habe bis Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts angedauert.
Im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung habe der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere die Stromnetze an die großen westdeutschen Konzerne verschieben wollen. Nach einem Beschluss der Volkskammer der - nunmehr menschenfreundlichen - Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sollten darüber jedoch die Kommunen verfügen.
Diesen Widerspruch zwischen den Regelungen des deutsch-deutschen Einigungsvertrags und dem gültigen DDR-Recht hatte Becker nach der Einigung ausgenutzt, um mit Unterstützung einer Vielzahl ostdeutscher Kommunen deren rechte einzuklagen. Mit dieser Klage hatte er schließlich Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
Aufgrund der damaligen Entscheidung habe sich das Energierecht nach und nach verändert. Erst jetzt habe man begonnen, gegen die großen Stromkonzerne zu klagen. Bis dahin hatte es solche Klagen nicht gegeben, weil die Kommunen und der Staat auch Anteilseigner der Stromkonzerne waren.
Zurückgegangen war diese Beteiligung auf eine überaus geschickte Strategie des RWE-Managers Hugo Stinnes. Durch die Vergabe der Anteilsmehrheit an Kommunen und Länder hatte er seinen Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (RWE) den Fortbestand ihrer Gebietskonzessionen langfristig gesichert.
Diese Situation sei erst in den 90er Jahren aufgebrochen worden, als der europaweite Wettbewerb zwischen Stromanbietern mit Hilfe von Ein- und Durchleitungsrechten durchgesetzt wurde. Seither hätten die großen Vier immer mehr an Boden verloren.
Wie Becker bereits vorher in seiner Rede zum Abschluss des zwölften Marburger Montagsspaziergangs ausgeführt hatte, seien seither immer mehr Alternativen im Bereich der erneuerbaren Energien aufgebaut worden. So hätten kleine Bayerische Wasserkraftwerke um höhere Einspeisungsvergütungen gestritten, die die Großkonzerne ihnen damals aber nicht zahlen wollten.
Als vorheriger Geschäftsführer der benachteiligten bayerischen Wasserkraftwerke habe Peter Ramsauer nach seiner Wahl in den Deutschen Bundestag konsequent für bessere Bedingungen für die Einspeisung von Strom in die Netze der Großkonzerne gekämpft. Dabei habe er sich mit dem SPD-Politiker Hermann Scheer und den Grünen verbündet, wodurch schließlich das "Erneuerbare-Energien-Gesetz" (EEG) zustandegekommen sei.
Aufgrund der besseren Rahmenbedingungen für kleine Kraftwerke und für Wind, Wasser und Sonne habe dann die Energiewende immer mehr Fahrt gewonnen. Die Atomenergie werde dadurch mehr und mehr zurückgedrängt.
Letztlich sieht der Marburger Experte für Energierecht das Ende der Nutzung von Atomenergie voraus. Atomstrom werde immer teurer und letztlich unbezahlbar.
Auf Nachfrage aus dem Publikum verglich er die Situation in Deutschland mit der im benachbarten Frankreich. Durch das Aufkommen der Grünen und ihre Machtübernahme in Hessen, anderen Bundesländern und 1998 auch im Bund sei der kritische Sachverstand zu einem festen Bestandteil des Regierungshandelns geworden. Damit verfüge Deutschland über wesentlich günstigere Ausgangsbedingungen für die Energiewende als jedes andere Land.
Besonders spannend findet der Marburger Anwalt die Situation nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg (BaWü), wo mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner als Ministerpräsident fungiert. Nach dem Rückkauf des Stromkonzerns "Energieversorgung Baden-Württemberg" ENBW) durch Kretschmanns Amtsvorgänger Stefan Mappus biete sich nun die einmalige Chance, die Energiewende mit Hilfe eines großen Stromkonzerns zu verwirklichen. Noch fehle es hier aber an der geeigneten Persönlichkeit, die diese Aufgabe im Management der ENBW auch umsetzen könnte.
Nachdenklich hob Becker die Bedeutung Marburgs für die Energiewende hervor. Ein Beispiel sei der ehemalige Kreisbeigeordnete Rainer Baake, der nach seiner Tätigkeit beim Landkreis Marburg-Biedenkopf Staatssekretär im hessischen Umweltministerium unter Joschka Fischer und dann im Bund unter dem Grünen-Umweltminister Jürgen Trittin wurde. Baake habe den sogenannten "Atomkonsens" maßgeblich mit ausgehandelt.
Neben ihm und Becker selbst sei der kritische Sachverstand zum großen Teil aus der Schule des Marburger Physikers Prof. Dr. Hans Ackermann hervorgegangen, der der Atomkraft seit Langem kritisch gegenüberstehe. Nicht zuletzt Becker selbst war über Schüler Ackermanns wie Michael Renneberg überhaupt auf das Gebiet des Energierechts vorgestoßen. Heute ist seine Anwaltskanzlei mit 300 Beschäftigten die größte Kanzlei Deutschlands in diesem Bereich.
Beckers Buch ist nach der Katastrophe von Fukushima so schnell ausverkauft worden, dass er Mitte Mai eine überarbeitete und aktualisierte Neuauflage vorlegen konnte. Dabei hat er ein neues Kapitel zu "Fukushima und die Falsifizierung des Restrisikos" zur ersten Version hinzugefügt. Doch schon jetzt ist auch die zweite Auflage fast wieder vergriffen.
Franz-Josef Hanke
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