29.04.2011 (fjh)
"Das war eine sehr, sehr kleine Atombombe", erklärte Gunter Kramp. Der Ingenieur vom
Anti-Atom-Plenum Marburg (AAM) beschrieb am Donnerstag (28. April) im Rathaus die Vorgänge bei der Atomkatastrophe von Fukushima.
Er selbst habe beim Leiter des Atomkraftwerks Biblis Vorlesungen zur Atomtechnik gehört, berichtete Kramp zu Beginn der Veranstaltung. Doch je mehr er von dieser Technologie erfahren habe, umso stärker sei seine Skepsis gewachsen, dass man Atomkraftwerke sicher betreiben könne.
Den gut 60 Anwesenden im Historischen Saal erklärte der Maschinenbauer zunächst die Funktionsweise von Atomkraftwerken. Anhand von farbigen Folien zeigte er sehr anschaulich, wie Brennstäbe aussehen, wo sie gelagert und wie sie gekühlt werden.
Anschließend beschrieb er die Vorgänge im japanischen Fukushima nach dem Erdbeben am Freitag (11. März) und dem darauffolgenden Tsunami. Habe die Anlage das Beben der Stärke 9 noch heil überstanden, so seien die 16 Meter hohen Wellen dem Notkühlsystem zum Verhängnis geworden.
Im ersten Teil seines Vortrags stützte sich Kramp auf den sogenannten "Ariva-Report". Der Kraftwerks-Hersteller Ariva habe die Vorgänge in Fukushima analysiert, um daraus Rückschlüsse für künftige Konstruktionen abzuleiten.
Zunächst habe das Unternehmen diese Untersuchung geheimgehalten. Dank eines engagierten Experten sei sie dann jedoch im Internet veröffentlicht worden.
Nach Kramps Einschätzung ist es in vier von insgesamt sechs Kraftwerksblöcken des Atomkraftwerks Fukushima 1 wahrscheinlich zu einer Kernschmelze gekommen. In dreien habe es vermutlich eine kurzzeitige Kettenreaktion gegeben.
In jedem Fall habe die Betreiberfirma Tokio Electric Power Corporation (TEPCO) wie auch die japanische Regierung die Öffentlichkeit schon sehr früh über das wahre Ausmaß der Katastrophe belogen, stellte Kramp fest. Inzwischen habe die Regierung zugegeben, dass sie die Sperrzone rund um die havarierten Reaktoren nur deshalb so klein ausgewiesen hatte, weil sie eine Massenpanik und größere Evakuierungsaktionen verhindern wollte. Damit habe sie aber bewusst Gesundheitsschäden der betroffenen Bevölkerung in Kauf genommen.
Auch die Aktivitäten von TEPCO zur Eindämmung der Katastrophe stießen bei Kramp großenteils auf barsche Kritik. Vieles wirke sehr hilflos und verhelfe nicht zu nachhaltigen Wirkungen.
Nach wie vor sei die gefährliche "Kritikalität" bei mindestens ddrei der vier betroffenen Meiler nicht abgewendet. Vielmehr drohe dort eine steigende Gefährdung, da die Einleitung von Meerwasser und andere provisorische Kühlmaßnahmen inzwischen die Stabilität der Bauten bedrohe.
Beim nächsten Erdstoß könne einer der Meiler auseinanderbrechen, befürchtet Kramp. Durch das hineingespritzte Wasser und die bisherigen Explosionen seien die Gebäude ohnehin schon instabil.
Eine dieser Explosionen sei möglicherweise auch eine Freisetzung radioaktiver Spaltprodukte gewesen, wie sie auch bei der Zündung einer Atombombe geschehe, mutmaßte Kramp. Jedenfalls habe Arnie Gundersen vom Beratungsbüro Fairewinds, dessen Expertise als langjähriger Mitarbeiter der Atomwirtschaft er sehr schätze, eine dementsprechende These aufgestellt und mit verschiedenen Beobachtungen untermauert.
Auch einige unstimmige Messwerte geben nach Kramps Ansicht Grund zur Sorge. In jedem Fall hält er für sicher, dass es im Atomkraftwerk schon zur Kernschmelze gekommen ist und die Region rund um Fukushima für Tausende von Jahren unbewohnbar bleiben wird.
"In dieser Situation ist ethisches Handeln unmöglich", meinte der bekennende Atomkraftgegner frustriert. Für ihn ist es genauso problematisch, Menschen bei der Arbeit im Reaktorgebäude einer – wahrscheinlich tödlichen – Strahlenbelastung auszusetzen wie ohne ihren Einsatz die Verstrahlung Tausender Anwohner zu riskieren.
Ein Einsatz von Robotern und ferngesteuerten Planierraupen oder anderer Maschinen biete auch nur geringe Ersatzmöglichkeiten, sagte Kramp. Zum Einen könnten Maschinen nie so genau agieren wie Menschen; zum Anderen seien ihre computergestützten Steuerungseinheiten bei einer radioaktiven Strahlung sehr störanfällig.
Aus seinen Ausführungen ergab sich die klare Erkenntnis, dass Atomkraftwerke nie sicher zu betreiben sind. Umso frappierender ist die Tatsache, dass ihre Betreiber auch in Deutschland nur sehr begrenzt für größere Schäden haften. deswegen
wies Kramp auf die Unterschriftenaktion "Atomkraftwerke in die Haftung nehmen" hin, obwohl diese Kamnpagne das eigentliche Problem natürlich nicht lösen könne.
Letztlich blieb die Sorge zurück, dass es Monate oder gar Jahre dauern kann, bis endlich Klarheit darüber besteht, was in Fukushima wirklich passiert ist und ob die Katastrophe dauerhaft eingegrenzt werden kann. Zusätzlich bleibt das beklemmende Gefühl, dass der Umgang mit sogenannten "Wegwerf-Arbeitern" wie auch mit der Bevölkerung nicht nur in Fukushima einer ernsthaften ethischen Überprüfung kaum standhalten wird.
Franz-Josef Hanke
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