20.04.2011 (jnl)
Frauen lieben die einfachen Dinge des Lebens. Zum Beispiel Männer!
Mit dem selten gespielten Drama "Baal" von Bertolt Brecht wagte sich das
Hessische Landestheater Marburg an einen echten "Brocken". In der Inszenierung von Stephan Suschke feierte das Drama am Samstag (16. April) Premiere.
Auf der "Bühne" am Schwanhof wurde das Publikum mit einem Bürgerschreck vergangener Zeiten in Comic-Optik konfrontiert. Die musikalische Umrahmung mit Rockstücken von Jim Morrison war grandios.
Der ausgewiesene Brecht-Experte Suschke kommt vom Berliner Ensemble (BE). Dort wurde die Verehrung für diesen bedeutenden Dramatiker des 20. Jahrhunderts über all die Jahrzehnte seit seinem Tod 1956 aufrechterhalten.
Das Interesse für Brecht als Kritiker der bürgerlichen Moral wurde durch die Krisenzeiten der Gegenwart neu entfacht. Das Landestheater eröffnet daher mit "Baal - Trommeln in der Nacht" eine Brecht-Reihe, die sich durch die kommenden Spielzeiten ziehen wird.
Wie zu erwarten, hielt sich Suschke sehr eng an den Text. Nur die visuelle Umsetzung der Szenen frischte er radikal auf.
Alle Stationen des Dramas wurden von Momme Röhrbeins schlauem Bühnenbild in eine Art Tonstudio verlegt. Wie im Tableau einer "Graphic Novel" sieht man hinter jedem der neun Kabinenfenster genau einen Akteur. Doch es gibt keine Zellenwände, sodass die Spieler auch körpersprachlich in Interaktion zueinander treten können.
Baal ist der Entwurf des jungen Mannes als Künstler-"Bohemien", Anti-Heuchler und Egomane. Über die Kümmernis seiner materiell ärmlichen Existenz tröstet er sich mit Alkohol und Sex hinweg.
Der amoralische Habitus des Halbstarken ist ein Muster, das in dieser Altersgruppe nahezu zeitlos ist. Seine Fähigkeiten als "Dichter", der seine durchaus ausdrucksstarken Gedichte zur Verführung der Damenwelt einsetzt, verschafft dem jungen "Wüstling" Kredit.
Das Angebot des Kaufmanns Mech (Thomas Streibig), seine Verse als Buch herauszubringen, schlägt Baal (Martin Maecker) aus. Stattdessen verschafft sich der charakterlich haltlose Erotomane in einer Branntwein-Schenke freies Saufen, indem er sich dort als Unterhalter verdingt.
Als ihm das zu anstrengend wird, entzieht er sich dem Wirt (Sebastian Muskalla) durch Flucht. Die Frauen, die ihm - als vermeintlich Starkem - zufliegen, nutzt er nach Kräften aus. Mehrere Szenen mit diesen "Geliebten" als Opfer seiner Willkür sorgen je nach Geschmack des Zuschauers für Erschrecken, Bewunderung oder Kopfschütteln.
Bis in die 60er Jahre hat die herrschende prüde Sexualmoral diesen Szenen ihr Erregungspotenzial frei Haus geliefert. Doch weder die mythische Verehrung von "Dichtern" noch von "Willenskraft" hat es aus dem frühen 20. Jahrhundert in die Gegenwart geschafft.
Ist dieses Stück nicht völlig obsolet? Oder brauchen die Menschen von heute tatsächlich einen moralischen Weckruf? Gilt es erneut, nicht den höchst vergänglichen Freuden des Alkohols und des Sexismus zu verfallen?
Brecht hat sich mit diesem Jugendwerk von einem möglichen dionysischen Irrweg in seinem eigenen Leben freigeschrieben. Das jugendliche Versacken in schlechten Gewohnheiten wird in "Baal" grell ins Licht gerückt und dem Publikum bis zum bitteren Ende vor Augen geführt.
Maecker überzeugte in der Hauptrolle mit kluger Sparsamkeit seiner Ausdrucksmittel. Auch die drei Schauspielerinnen hatten jeweils eindrucksvolle - für das Stück zentrale - Auftritte. Neben Claudia Mau als Emilie waren das Sigrid Dispert, die bereits die Titelrolle in "Effi Briest" gespielt hatte, und Victoria Schmidt als Eros-Opfer.
Aus ihren verhältnismäßig kleinen Rollen machten Johannes Hubert, Sven Mattke, Sebastian Muskalla, Oliver Schulz und Thomas Streibig Beachtliches. Vom Schauspielerischen her machte die 100-minütige Inszenierung ohne Pause sogar großen Spaß. Der Applaus war verdient.
Jürgen Neitzel
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