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Leben oder Tod


Ein Arbeitstag im Jugendamt Marburg

05.05.2008 (sts)
Im Büro von Maja Swaczyna klingelt das Telefon. Sie lässt alles stehen und liegen und nimmt den Hörer ab: "Bei jedem Anruf kann es um Leben oder Tod gehen", sagt sie. Das ist Alltag für die Sozialpädagogin und ihre zwölf Kollegen beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamts der Stadt Marburg.
Doch das Arbeitspensum steigt. Die Zahl misshandelter oder verwahrloster Kinder wächst. Nach Angaben des Statistischen Landesamts in Wiesbaden hat sich die Zahl der vom Jugendamt zu betreuenden Familien von 1.083 im Jahr 1999 auf 2.392 im Jahr 2006 mehr als verdoppelt.
Die Zahl der Inobhutnahmen - also der Aufnahme und Unterbringung eines in Not befindlichen Kindes durch das Jugendamt - erhöhte sich 2007 im Vergleich zum Vorjahr von 1.850 auf 2.010 Fälle. Das ergibt ein Plus von acht Prozent.
Marburg bildet da keine Ausnahme. Hier hat sich die Zahl von Kindeswohl-Gefährdungen mit unmittelbaren Gefahren für die körperliche oder seelische Entwicklung eines Kindes in den Jahren 2005 bis 2007 von 19 auf 77 vervierfacht.
"Wir sind daher seit zwei Jahren in einer personell sehr angespannten Situation", sagt Jugendamtsleiter Jost Schmidt. Wenngleich es keine hundertprozentige Sicherheit gebe, so ist er sich sicher, dass ähnlich tragische Todesfälle wie die von Kevin in Bremen oder von Lea-Sophie in Schwerin in Marburg nicht passieren könnten.
"Meldungen über Kindeswohl-Gefährdungen haben bei uns immer Vorrang. Darunter leidet aber oft unsere andere Arbeit", gibt Schmidt zu Bedenken. So müssten beispielsweise Termine für Beratungsgespräche oder Hausbesuche immer wieder verschoben werden.
Genau dieses Problem hat nun auch Swaczyna. Soeben hat ein anonymer Anrufer eine Familie gemeldet, in der die ein- und dreijährigen Kinder auf verschimmelten Matratzen schlafen müssten.
Die ganze Wohnung sei bis zur Decke voller Müll. Die Kinder würden nicht richtig ernährt. Die Mutter würde die Kinder sogar mitnehmen, um für den drogenabhängigen Vater "Stoff" zu besorgen.
Sofort zieht Swaczyna ihre Kollegin Andrea Mühlenbrock hinzu. Denn bei Meldungen über Kindeswohl-Gefährdungen gilt das "Vier-Augen-Prinzip".
Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, muss jeder neue Fall immer von zwei Fachkräften gemeinsam bearbeitet und dokumentiert werden. "Dieses Prinzip ist notwendig und richtig, aber es erfordert letztlich auch mehr Personal als wir haben", macht Schmidt deutlich.
Gemeinsam mit dem Jugendamtsleiter besprechen die beiden Mitarbeiterinnen nun das weitere Vorgehen. Die Meldung sei ernstzunehmen. Ein unangemeldeter Hausbesuch bei der Familie wird erwogen.
Trotz der Warnung vor einem großen Hund soll die Polizei jedoch erst einmal nicht hinzugezogen werden. Das ASD-Team will zunächst den Kontakt zu der bisher noch unbekannten Familie herstellen und sich die Wohnung genau ansehen. Dann will man entscheiden, ob eine akute Gefährdung für die Kinder besteht.
Die Fahrt geht in ein soziales Brennpunkt-Viertel von Marburg. "Es ist schon ein mulmiges Gefühl, weil man nicht weiß, was einen vor Ort erwartet", sagt Mühlenbrock.
Da auch auf mehrmaliges Klingeln niemand öffnet, beschließen die beiden Frauen, zunächst einmal mit der Leiterin des Kindergartens zu sprechen, in den das ältere der beiden Kinder geht. Von ihr erfährt das ASD-Team, dass der Dreijährige dort regelmäßig von der Mutter hingebracht und auch wieder abgeholt wird. Er sei bisher nicht auffällig geworden.
Beim anschließenden zweiten Besuch der Familie haben die Mitarbeiterinnen mehr Erfolg. Sie stellen zwar fest, dass die Wohnung unordentlich ist, jedoch nicht in dem Maße, wie von dem anonymen Melder beschrieben. Sie geben der Mutter konkrete Auflagen und kündigen an, in Kürze zur Nachkontrolle wiederzukommen.
"Eine Inobhutnahme der Kinder kam hier nicht in Frage, da sie keiner konkreten Gefahr ausgesetzt sind. Dennoch braucht diese Familie Unterstützung vom Jugendamt", meint Swaczyna. Diese Unterstützung könnte beispielsweise in Form einer Haushaltshilfe oder einer regelmäßigen Erziehungsberatung erfolgen.
Neben dem Anstieg sozialer Problemlagen vermutet Jost Schmidt auch eine durch die ständige Medienpräsenz des Themas entstandene "neue Kultur des Hinsehens" als Grund für die enorm steigende Zahl von Meldungen zu Kindeswohl-Gefährdungen. Die Hemmschwelle, das Jugendamt zu informieren, sei dadurch gesunken. Besorgniserregend sei aber, dass die Fälle "massiver" würden. Gerade der Alkohol- und Drogenkonsum der Eltern fördere Vernachlässigung und körperliche Gewalt gegen die Kinder.
In vielen Familien mit Migrations-Hintergrund und Aussiedlerfamilien spielten zudem überkommene Erziehungsstile eine wesentliche Rolle: "Körperliche Gewalt gegen die Kinder ist dort Teil der Erziehung. Da fehlt einfach das Problembewusstsein." Daher sei es nicht verwunderlich, dass in knapp 30 Prozent der Gefährdungsfälle nichtdeutsche Familien betroffen seien.
Die steigende Arbeitsbelastung im Jugendamt wird derzeit noch mit Kaffee und Tee im Sozialraum bewältigt. In der Hauptbelastungszeit vor Weihnachten habe diese "Ventilfunktion" jedoch nicht mehr ausgereicht. "Das war Fallbearbeitung am Fließband. Man kam nicht mehr zum Luft-Holen", berichtet Swaczyna.
Seit Monaten fordert der ASD zusätzliche Stellen, damit Marburg auch künftig Fälle wie die von Kevin oder Lea-Sophie erspart bleiben.
Stephan Sonntag
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